Im Augenblick der Angst
aus dem Haus gegangen und hat es vergessen?«
Anna deutete auf den Becher und die Dose Instantkaffee. »Er fängt an, sich eine Tasse Kaffee zu machen, und geht dann einfach?«
»Vielleicht hat jemand angerufen, irgendwas Dringendes.«
Sie nickte. Und legte endlich das Geld ab. »Ja, vielleicht.« Eine plötzliche Kälte breitete sich in ihrer Brust aus. »Aber vielleicht sollten wir trotzdem mal nachsehen.«
»Du meinst –« Tom stockte und spähte den Flur hinunter, in Richtung der beiden anderen Zimmer. Für eine Sekunde begegneten sich ihre Blicke. Eine unausgesprochene Frage hing zwischen ihnen in der Luft – bis Tom sich abwandte, um das Fenster aufzumachen. »Wir müssen sowieso durchlüften.«
Eine dürftige Ausrede, aber immerhin etwas, woran man sich festhalten konnte. Kurz darauf standen sie vor dem nächstgelegenen Zimmer. Die Tür war offen, drinnen herrschte Dunkelheit. Nach kurzem Zögern tastete Anna nach dem Schalter und legte ihn um. Grelle Lampen blitzten auf, beleuchteten eine Trainingsbank und ein Set gusseiserner Gewichtscheiben, daneben ein tragbares Radio und ein Zinnaschenbecher, der vor Zigarettenstummeln überquoll. Albernerweise musste Anna als Erstes daran denken, wie sie ihren Untermieter gleich zu Anfang gebeten hatten, draußen zu rauchen, weil das hier ein Nichtraucherhaus war. Tatsächlich waren das beinahe die einzigen Gelegenheiten, zu denen sie ihn sahen – wenn er mit seiner Zigarette vorne auf der Veranda stand –, aber offenbar waren das nicht die einzigen Gelegenheiten, zu denen Bill Samuelson rauchte. Nachdem Tom das Fenster geöffnet hatte, gingen sie den Flur hinunter zum Schlafzimmer.
Anna wusste es, noch bevor Tom das Licht anknipste. Wenn sie ehrlich war, hatte sie es schon in der Küche gewusst. Deshalb kreischte sie nicht, zuckte nicht zusammen und tat auch sonst nichts, was diese peinlichen Frauen in den Kinofilmen immer taten.
Das Schlafzimmer war genauso spartanisch eingerichtet wie die restliche Wohnung. Eine kleine Kommode. Ein Nachttischchen mit Leselampe, Taschenbuch, Wecker, einem weiteren randvollen Aschenbecher und einer kleinen Medizinflasche. Eine breite Matratze auf einem einfachen Metallfederrost, ohne Rahmen und Kopfbrett, mit altersgrauen Laken. Und Bill Samuelson, auf der Seite eingerollt, mit blasser Haut und zusammengekniffenen Lippen. Seine Hände lagen auf dem Bauch, als hätte er Magenschmerzen.
Das erste und letzte Mal, dass Anna einen Toten gesehen hatte, war bei der Beerdigung ihres Großvaters. Damals war sie elf, und sie wusste noch, dass sie rein gar nichts gefühlt hatte, als sie von ihrer Mutter an die Hand genommen und zum Sarg geführt wurde. Nein, ganz so war es nicht: Ihre Mutter weinte, was Anna nur selten erlebte, und das zerriss ihr das Herz. Aber der Mann in dem mit Samt ausgeschlagenen Kasten, der Mann mit den viel zu roten Backen und dem steinernen Gesicht, rief keinerlei Gefühle in ihr hervor. Das war nicht ihr Opa. Ihr Opa war ein fröhlicher, leutseliger Mann, ein begeisterter Kartenspieler und Scotchtrinker, einer, der immer einen Witz auf Lager hatte. Der Mann in der Kiste dagegen … der war einfach nur abwesend.
»Mein Gott«, flüsterte Tom.
Einige Sekunden lang verharrten sie im Flur, als würde der Tod ein Kraftfeld ausstrahlen, das den gesamten Raum hinter der Tür ausfüllte. Die Leiche auf dem Bett sah zwar nicht unbedingt friedlich aus, aber doch recht ruhig. Gleichgültig. Das war der richtige Ausdruck. Er wirkte gleichgültig, wie ein Mann, der sich auf seine Bestrafung vorbereitet hatte. Anna starrte ihn an, durch die klebrige, von fettigem Rauch gesättigte Luft, und lauschte auf das stetige Ticken der Uhr auf dem Nachttisch. Tick tick tick, tick tick tick, maß sie die Zeit, die ihr noch blieb, die Tom noch blieb. Ein willkürlicher Rhythmus, der das ganze Leben regierte.
Als sie einen Fuß ins Zimmer setzte, zerriss ein Knarren die Stille wie ein lauter Lacher in der Kirche. Sie erstarrte – und ging dann weiter, streckte eine Hand aus, langsam, ganz langsam. Bill Samuelsons Brust bewegte sich nicht, sie konnte klar erkennen, dass er nicht atmete, aber sie musste sichergehen, sie musste es spüren, um es zu glauben. Die Haut seines Arms war kühl. Aber noch nicht kalt. So lang konnte es also nicht her sein, dass er gestorben war. Eine Stunde vielleicht? Sollte das alles sein, was die beiden Welten voneinander trennte, seine und ihre? Eine einzige Stunde?
Tick tick tick.
»Ich schätze,
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