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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sakey
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ihm einfiel, war Anna, wie sie auf ihm gesessen hatte. Er lächelte, gähnte herzhaft und reckte sich, drückte die Schultern durch und blickte auf die andere Seite des Betts: das Kopfkissen verwaist, die Laken zerknüllt.
    Er streckte sich quer über das Bett bis zu Annas Nachtkästchen, um die Regenaufnahme abzuschalten, und richtete sich auf. Mit den Füßen auf dem Boden blieb er noch einen Moment auf dem Bettrand sitzen. Elf Uhr morgens. So lange schlief er selten. Aber er würde jederzeit ein paar Stunden Tageslicht eintauschen, wenn er dafür auf diese Weise geweckt wurde … Außerdem fand man nicht jeden Tag dreihundertsiebzigtausend Dollar und eine Leiche.
    Der Gedanke erwischte ihn kalt und er riss die Augen auf. Mein Gott. War das alles wirklich passiert? Tom stand auf und zog sich die Jeans von gestern über, öffnete die Schlafzimmertür und schlurfte den Flur hinunter.
    Wenn er am Wochenende aus dem Bett gekrochen kam, fand er Anna meistens im Wohnzimmer, vor sich eine Tasse Kaffee und einen Stapel Papier, einen Kugelschreiber hinter dem Ohr. Sie hatten eine Abmachung: Er putzte die Badezimmer, sie kümmerte sich um die Rechnungen.
    Doch heute war die Couch leer. »Liebling?«
    Ursprünglich hatten sie geplant, das zusätzliche Schlafzimmer in ein Kinderzimmer umzuwandeln, aber sämtliche Ratgeber warnten davor, so etwas im Voraus zu erledigen  – das würde nur den Druck erhöhen und einen ständig daran erinnern, was man sich am sehnlichsten wünschte, aber eben nicht hatte. Im Grunde ein guter Ratschlag, nur dass sie den Raum jetzt bloß als Abstellkammer benutzten, als Lagerraum für alle möglichen Kisten und Fotoalben. Und dieser Zustand, der ganz offensichtlich nur eine vorübergehende Lösung sein konnte, erinnerte sie erst recht daran.
    Doch in der Abstellkammer war Anna auch nicht. Am Herd stand sie nicht, und auch nicht am Küchentisch. Vielleicht ist sie Bagels holen gegangen.
    Tom öffnete die Küchenschublade und kramte darin herum. Die Ersatzschlüssel waren weg! Er lief zur Tür und eilte die Treppe hinunter. Der Eingang zur unteren Wohnung stand offen, noch immer lag ein ätzender Rauchgeruch in der Luft. »Anna?«
    Eine leise Stimme aus dem Schlafzimmer. »Hier drin.«
    Anna saß auf der Kommode, ein Bein untergeschlagen. Sie trug ihr Columbia-College-Shirt und eine von Toms Boxershorts. Während sie sich eine Locke ihres offenen Haars um den Finger wickelte, warf sie ihm ein bemühtes Lächeln zu. »Hi.«
    »Hi.« Tom verschränkte die Arme und lehnte sich gegen den Türrahmen. »Was ist los?«
    Sie zögerte einen Moment. »Ich musste einfach an ihn denken.«
    »Was ist mit ihm?«
    »Ich weiß nicht. Nichts, wahrscheinlich. Es ist wohl eher, dass … dass er gestorben ist. Dass hier unten jemand gestorben ist.« Sie deutete auf das Bett. »Findest du das nicht auch merkwürdig?«
    Er nickte, sagte aber nichts.
    »Ich meine, wir kannten ihn nicht mal. Und jetzt ist er tot. Gestern war er noch am Leben, und heute ist er einfach … verschwunden.« Sie umklammerte sich mit den Armen. »Vielleicht war er ja ein netter Kerl, und wir haben ihn einfach nie richtig kennengelernt.«
    »Und vielleicht war er ein absolutes Arschloch.« Tom tat ihr vorwurfsvolles Starren mit einem Schulterzucken ab. »Auf jeden Fall hat er sich nicht besonders viel Mühe gegeben, freundlich zu sein.«
    »Wahrscheinlich hast du Recht. Aber mir ist trotzdem nicht wohl dabei.« Ihrem Gesichtsausdruck nach schien sie nicht nur Bill Samuelsons Tod zu meinen.
    Tom blickte auf das Bett, auf die zerwühlten Laken. Gestern Abend hatte er einen der Cops gefragt, ob sie das Bettzeug mitnehmen würden – der Cop hatte gelacht und gesagt, nein, Bill würde es wohl kaum noch brauchen. »Ich versteh schon.«
    Gestern, als sie sich das Geld unter den Nagel gerissen hatten, hatte ihm der schiere Wahnsinn der Situation Auftrieb verliehen – die Tatsache, dass sich ganze Jahre, ganze Träume mit diesen Scheinen kaufen ließen, einfach so, als hätten sich Zeit und Hoffnung in Papier verwandelt. Nicht auf das Geld hatten sie Anspruch erhoben, sondern auf Leben – auf ihr Leben. Wer hätte da Nein gesagt? Aber jetzt, in diesem verlassenen Schlafzimmer, kam ihm alles viel weniger eindeutig vor.
    Dann hatte er eine Idee. Er spürte, wie sich sein Mund zu einem Lächeln verzog.
    »Was ist?« Sie legte den Kopf schief und lächelte neugierig zurück. »Was?«
    »Ich weiß, wie wir wieder auf andere Gedanken

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