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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sakey
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die Treppe in den zweiten Stock hinaufstiegen.
    Vor dem Apartment des Jungen lag eine Fußmatte mit der Aufschrift: »Hi! Ich heiße Matt(e)!« Schnaubend deutete Marshall darauf, zog eine flachgedrückte Rolle Isolierband aus der Gesäßtasche und wickelte die ersten paar Zentimeter ab, während Jack schon vor dem Schloss kniete. Er führte den Spanner in den Zylinder ein und ließ die Spitze an den Stiften entlanggleiten. Es war jedes Mal ein wunderbares Gefühl, wenn der Zylinder die entscheidenden Millimeter nachgab. Jack richtete sich auf und entriegelte die Tür.
    Der Wohnblock war typisch für Chicago: ein massiver Steinbau auf einem Grundstück mit Standardbreite. Auch das Apartment war klassisch angelegt – gleich hinter der Tür lag das langgezogene Wohnzimmer. In dem bisschen Licht, das durch die Vorhänge hereinsickerte, waren die Möbel kaum sichtbar, aber auf dem Sofa war eine Delle zu erkennen, wo der Junge eben noch gesessen und ferngesehen hatte – ohne zu ahnen, dass er beobachtet wurde. Jack trat ein und lauschte. Totenstille.
    Gemeinsam huschten sie den Flur hinunter – zwei lautlose Schatten. Im Schlafzimmer war es dunkel, unter dem Türspalt sickerte kein Licht hindurch. Jack hielt eine Sekunde lang inne, rief sich Bobbys Gesicht in Erinnerung – und spürte, wie Wut und Hass in ihm aufbrandeten.
    Er riss die Schlafzimmertür auf. Zwei Schritte, und sie waren drinnen. Marshall knipste die Taschenlampe an und warf einen blendenden Lichtkegel in die Dunkelheit: zerknitterte Laken, der Rand des Kopfbretts – und der Junge, ein hübscher Kerl Anfang zwanzig, der nun völlig entgeistert in die Höhe fuhr und sich instinktiv eine Hand vors Gesicht hielt, um das Licht abzuwehren. Doch Jack griff sich die Hand und drehte sie nach hinten, zerrte ihn hoch. Der Junge leistete keinen Widerstand, sein Mund klappte auf – und schloss sich wieder, als Jack ihm einen Schlag mit der flachen Hand ins Genick verpasste. Und dann hatten sie ihn, packten ihn an der Schulter, bohrten ihm die Finger in die weiche Haut, die noch warm war von der Decke, rissen ihn aus dem Bett und schleuderten ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Holzboden. Marshall ließ sich auf seinen Rücken fallen, setzte ihm die Knie auf die Schultern und wickelte das Isolierband um seinen Kopf, eine Schicht nach der anderen, bis sein Mund vollständig bedeckt war und sein Haar in unordentlichen Mustern am Schädel klebte.
    Plötzlich war es vorbei. Plötzlich war es still, bis auf ein leises Pfeifen – der Junge hatte den Kopf zur Seite gedreht und atmete stoßweise durch die Nase ein und aus. Seine Pupillen weiteten sich in dem fahlen Licht, er blinzelte, ohne Jack und Marshall zu erkennen, und versuchte, etwas zu sagen, doch die Worte wurden vom Isolierband verschluckt. Jetzt sah er aus wie ein kleiner Junge, ein bemitleidenswertes Häufchen blanker Angst und nackter Haut, und einen Moment lang kamen Jack Zweifel.
    Doch dann dachte er an seinen Bruder, der in irgendeiner beschissenen Gasse enden musste, und nickte Marshall zu, der sofort einen Arm des Jungen ausstreckte, flach auf den Boden drückte und am Ellbogen fixierte. Jack atmete tief ein, hob den rechten Fuß und stampfte ihn mit voller Wucht auf die Hand des Jungen. Krachend landete die Ferse seines Lederschuhs auf den Fingern, der Körper des Jungen krampfte sich zusammen, die Adern an seinem Hals traten hervor, er brüllte gegen das Isolierband an. Abermals hob Jack den Fuß, abermals rammte er ihn nach unten. Ein unartikuliertes Aufheulen mischte sich mit dem Knacken der Knochen. Jeder Tritt mit dem harten Absatz zerriss Haut und Muskeln, schredderte glitschige Sehnen. Der Junge kämpfte, doch Marshalls Griff glich einem Schraubstock. Hoch. Runter. Und nochmal. Hoch. Runter. Die Finger zuckten wie Würmer nach einem Regenguss, Haut platzte auf und entblößte rohes Fleisch, Knochenfragmente ragten in unmöglichen Winkeln hervor.
    Als es schien, als würde bald einer der Finger abfallen, hörte Jack auf. Keuchend ließ er sich in die Knie sinken und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Der Junge war noch immer nicht in Ohnmacht gefallen, sondern schrie sich weiter die Lungen aus dem Leib, obschon kaum etwas zu hören war. Seine blutunterlaufenen Augen wirkten riesig, aus seiner Nase hingen Rotzfäden.
    »Hallo, Ray«, sagte Jack. »Wir sind Freunde von deinem Onkel Will. Und es wäre wirklich nett, wenn du uns sagen könntest, wo wir ihn finden.«
     

5
     
    Tom

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