Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sakey
Vom Netzwerk:
gefühlt. Dabei war dieses Gefühl früher ganz von allein gekommen, damals, als ihr Job nur ein Job war, als die Zukunft aus nichts als Möglichkeiten bestand. Ein wunderbar simples Gefühl, dass alles, wirklich alles gut werden würde.
    Anna kramte die Schlüssel zum ersten Stock aus der Tasche, doch kurz vor der Treppe blieb sie stehen. Warum sollte sie die Putzmittel erst hochschleppen? Sie konnte sie genauso gut gleich in der unteren Wohnung lassen. Also ging sie hinüber zu Bill Samuelsons Tür und steckte den Ersatzschlüssel ins Schloss.
    Leise summend trat sie ins Wohnzimmer und schloss die Tür hinter sich. Es roch noch immer nach Rauch, aber weniger stark als zuvor. Sie stellte die Tüte vom Baumarkt ab, entriegelte das große Erkerfenster und schob es ratternd nach oben. Schon besser. Jetzt noch das Küchenfenster aufreißen, dann gab es einen schönen Durchzug.
    Im Flur stutzte sie. Die Schlafzimmertür war geschlossen. Merkwürdig. Sie erinnerte sich nicht daran, sie zugemacht zu haben, als Tom und sie neulich gegangen waren. Vielleicht hatten sie versehentlich ein Fenster offen gelassen, und der Luftzug hatte die Tür zugeschlagen? Anna legte die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter.
    Die Schubladen waren aus der Kommode gerissen, die Schranktüren klafften auf, die Matratze lag schief auf dem Rost. Eine geisterhafte Hand schien sich auf Annas Schulter zu legen. »Tom?« War er etwa früher nach Hause gekommen, um die Wohnung auszuräumen? Sie tat einen vorsichtigen Schritt ins Schlafzimmer, als ob jederzeit der Boden unter ihrem Gewicht einbrechen könnte. »Liebling?« Noch ein zögerlicher Schritt. Auf einmal war sie sich jedes Atemzugs bewusst, spürte das Gewicht der Handtasche auf ihrer Schulter, das Leder der Schuhe, das ihre Zehen einzwängte. Irgendetwas roch komisch, ein durchdringender Gestank, der ihre Nasenflügel zucken ließ. Er kam aus dem Bad.
    Langsam spähte sie um die Ecke der Badezimmertür. Die Lampe über dem Spiegel war eingeschaltet und tauchte den kleinen Raum in ein kaltes, weißes Licht. Die offenen Türen des Unterschranks legten die Überbleibsel eines einsamen Lebens frei: Raumspray, Saugglocke, eine halb heruntergebrannte Kerze. Auch der Medizinschrank war aufgerissen, das zersplitterte Glas des Spiegels reflektierte Bruchstücke des Waschbeckens, des Duschvorhangs, der gefliesten Wand. Medizinfläschchen waren über den Boden gerollt, Zahnbürste und Zahnpasta lagen daneben. Das Zimmer wirkte, als hätte es jemand in aller Eile durchsucht.
    Hier drinnen war der Gestank noch schlimmer. Anna brauchte eine Weile, um zu kapieren, was der Grund dafür war. Ihr Blick wanderte zur Toilette. Igitt! Warum war Tom einfach gegangen, ohne zu spülen –
    Mit einem Mal begriff sie alles. Das Chaos, die geschlossene Schlafzimmertür, die verdreckte Toilette, mein Gott, die widerliche Toilette, die irgendjemand so zurückgelassen hatte … Irgendjemand, aber nicht Tom. Annas Halsmuskeln zogen sich zusammen, und sie presste die Hand vor den Mund, um nicht loszuschreien. Zugleich wurde ihr klar, dass sie der Tür den Rücken zukehrte, und sie wirbelte herum, absolut sicher, dass jemand hinter ihr stand und –
    Das Schlafzimmer war leer.
    Sie musste hier raus. Schnell. Wer auch immer das getan hatte, war wahrscheinlich noch hier. Das Blut klopfte in ihren Schläfen, Feuchtigkeit breitete sich in ihren Achselhöhlen aus. Konnte sie es wagen, durch die Vordertür zu fliehen? Als sie hereingekommen war, hatte sie vor sich hin gesummt und Toms Namen gerufen – als ob sie unbedingt mitteilen wollte, wo sie sich gerade befand. Bestimmt schlich der Einbrecher genau jetzt den Flur hinunter, ein ausgezehrter Mann mit langen, schmutzigen Fingern, in der einen Hand ein Messer, während er sich mit der anderen genüsslich über den Schritt seiner abgewetzten Jeans strich …
    Reiß dich zusammen, verdammt nochmal, reiß dich zusammen!
    Ihre einzige Chance war, hier abzuhauen, und zwar schnell. Also, Vordertür oder Hintertür? Die Vordertür, schließlich war sie auch durch die Vordertür reingekommen. Wenn der Einbrecher noch hier war, würde er in die entgegengesetzte Richtung fliehen. Alles klar. Keine große Sache. Der Schlüsselbund, wo ist der Schlüsselbund? Hier. Gut, nimm ihn so in die Faust, dass du damit zuschlagen kannst, auch wenn es noch so lächerlich aussieht. Okay. Und jetzt dreh dich einfach um und geh raus. Geh denselben Weg zurück. Keine Panik. Nicht rennen,

Weitere Kostenlose Bücher