Im Bann Der Herzen
der üblen Gegend um Earl's Court praktizierte, ihre Neugierde. Vor allem hatte sie der Umstand neugierig gemacht, dass er sich mit einigen Pfund Süßigkeiten eingedeckt hatte, mit mehr Lakritze und Bonbons, als ein Mensch konsumieren konnte. Chastity konnte das gut beurteilen, denn ihr eigener Verzehr von Süßigkeiten lag weit über dem Durchschnitt. Sie hatte sich gefragt, ob die Sachen für die armen Kinder bestimmt waren, die in seine Praxis in St. Mary Abbot's gebracht wurden. Es war eine Vorstellung, die ihre eigene mitfühlende Natur anrührte und in ihr den Wunsch weckte, diesen Mann kennen zu lernen. Und nun war er so ganz anders, als sie sich ihn vorgestellt hatte.
Sie schlug den Schleier zurück und atmete erleichtert auf, als kühle Luft ihre glühenden Wangen kühlte. Mrs. Beedle fand ihn sehr nett, doch kannte die Inhaberin eines kleinen Eckladens ihre Kunden natürlich nicht sehr gut. Wohnte er in Kensington? Das stand zu vermuten, da er Mrs. Beedles Laden frequentierte. Es war eine anständige Gegend, aber wohl kaum eine vornehme Privatadresse für einen aufstrebenden, in der Harley Street praktizierenden Arzt. Für eine Praxis in Earl's Court natürlich ausreichend. Vermutlich auch billig genug ... denn dass Geld für ihn ein Problem darstellte, war klar.
Chastity sagte sich, dass die Vermittlung ein Eheanbahnungs— Service war, dem es nicht zustand, moralische Urteile über die Klienten zu fällen. So gesehen, konnte man sagen, dass der Arzt seine Vorstellungen und Anforderungen klipp und klar geäußert hatte.
Nur war es ein Standpunkt, den einzunehmen Chastity überaus schwer fiel. Dr. Farrell war kalt und berechnend. Er wollte eine Frau, die vermögend und einflussreich war, eine Frau, die er für seine Zwecke einspannen konnte. Ihre Kopfhaut prickelte. Sie verspürte ein überwältigendes Gefühl der Enttäuschung.
Die Droschke hielt vor der eindrucksvollen Fassade des Hauses Nr. 10 an, und sie stieg aus, bevor sie den Kutscher bezahlte. Dann lief sie die Treppe zur Haustür hinauf und schauderte in einem Windstoß, der über die Grünanlage des Platzes fegte. Jenkins, der Butler, öffnete ihr, ehe sie die oberste Stufe erreicht hatte.
»Ich sah die Droschke anhalten, Miss Chas«, erklärte er. »Heute ist der Wind äußerst unangenehm.«
»Er riecht nach Schnee«, meinte Chastity und betrat die von einem massiven Zentralheizungskörper erwärmte Halle. »Ist mein Vater da?«
»Seine Lordschaft hat die Bibliothek nicht verlassen, Miss Chas«, berichtete Jenkins. »Er sagte, er hätte sich ein wenig erkältet.«
»Ach, du meine Güte.« Chastity runzelte die Stirn, als sie die Handschuhe auszog und den Hut ablegte. »Sollen wir einen Arzt rufen?«
»Ich fragte ihn, er aber lehnte ab.«
Chastity nickte. »Ich sehe nach ihm. Vielleicht ist ihm nach Tee mit Whiskey zumute.«
»Ich brachte gleich nach dem Lunch die Whiskeykaraffe hinein«, sagte Jenkins.
Wieder furchte Chastity die Stirn. Lord Duncan litt zunehmend an Depressionen, seitdem der Verleumdungsprozess die Niedertracht seines einstigen besten Freundes, des
Earl of Barclay, an den Tag gebracht hatte. Der Fall hatte sowohl den Betrug seines Freundes als auch sein eigenes dummes und blindes Vertrauen enthüllt. Und Letzteres war es, was nach Meinung seiner drei Töchter Lord Duncan am schwersten belastete. Seine eigene Leichtgläubigkeit hatte ihn um das Familienvermögen gebracht, da er es einem Schwindler und Betrüger anvertraute. So war es gekommen, dass Lord Duncans Töchter The Mayfair Lady und den Vermittlungs-Service zu Gewinn bringenden Unternehmungen ausgebaut hatten, deren Erträge eine Zeit lang dazu dienten, ihren Vater in Unwissenheit über die finanzielle Lage der Familie zu belassen. Diese Tatsache nagte ebenfalls am Stolz Lord Duncans. Dass seine Töchter ihm die Wahrheit vorenthalten hatten, während sie sich abmühten, den Haushalt vor dem Bankrott zu bewahren, war eine Tatsache, mit der er sich nicht abfinden konnte.
Chastity ging zur Bibliothek, zögerte aber, die Hand zum Anklopfen erhoben. Seit Prudences Heirat vor sechs Wochen war sie nun die einzige im Haus verbliebene Tochter. Die Bürde von Lord Duncans zunehmenden Depressionen lastete daher am schwersten auf ihren Schultern, wiewohl ihre Schwestern bereitwillig diese Last mit ihr getragen hätten. Doch verhinderte die örtliche Distanz, dass sie von seinen Stimmungsschwankungen viel mitbekamen.
Leise klopfte sie an und betrat den Raum, in dem
Weitere Kostenlose Bücher