Im Bann des blauen Feuers
Zeitlupe, mit den Fingern die Konturen ihres Gesichts nachzeichnete, ohne auch nur ihre Haut zu berühren. Verlegen schlug sie die Augen nieder.
Unglaublich, was für ein Chaos der Gefühle er in ihr auslöste. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. In ihrem Kopf schwirrte es. Alles, was sie wollte, war, ihm nah zu sein. Für den Augenblick vergaß sie alles um sich herum. Es gab keine Sorgen, keine Ängste, keine Monster, die ihr im Dunkeln auflauerten – nichts, außer Ash und ihr.
Ash wusste nicht, wie ihm geschah.
Natürlich war ihm nicht entgangen, dass er auf menschliche Frauen eine gewisse Anziehungskraft ausübte. Er hatte es immer recht praktisch gefunden, half es ihm doch gelegentlich dabei, leichter ans Ziel zu kommen. Doch für ihn als Angelus war es selbstverständlich niemals infrage gekommen, diese Gefühle zu erwidern.
Über Äonen hatte er genau die Angeli, die in Liebe zu einem Menschen entflammt waren, mit unbarmherziger Härte verfolgt. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass er selbst einmal so etwas wie Zuneigung einer Frau gegenüber empfinden könnte. Und nun saß er Céleste gegenüber, und die Erkenntnis traf ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Dabei konnte er nicht einmal erklären, warum ausgerechnet sie eine solche Wirkung auf ihn hatte.
Mit der an Perfektion grenzenden Schönheit weiblicher Angeli konnte keine Frau verglichen werden. Doch vielleicht waren es gerade diese kleinen Makel, die sie, zusammen mit ihrer menschlichen Natur, so anziehend machten. Menschen besaßen diese widersprüchliche Mischung aus Stärke und Schwäche, aus Verletzlichkeit und Härte, aus Liebe und Hass. In mancherlei Hinsicht waren sie so leicht zu durchschauen, und dann wieder so vielschichtig, so irrational, dass man ihre nächste Handlung kaum vorhersehen konnte.
Wie war es möglich, dass er das bisher nicht erkannt hatte?
Er dachte an Dominikus le Fort und all die anderen Nachkommen aus Verbindungen zwischen Menschen und Angeli, die von ihm gejagt und zur Strecke gebracht worden waren. An ihre Mütter und Väter, für die er nur Verachtung und Abscheu übriggehabt hatte. Was für eine Ironie des Schicksals, dass er nun selbst kurz davor stand, dasselbe Verbrechen zu begehen, für das er sie verurteilt hatte.
Verdammt, reiß dich zusammen! Céleste ist womöglich dein Ticket zurück in deine alte Position – willst du das wirklich aufs Spiel setzen?
Es war etwa vier Wochen her, dass er unerwartet Besuch in seinem Apartment bekommen hatte. Nach seiner Verbannung aus dem Elysium war er eine Weile lang ziellos in der Welt umhergeirrt, ehe er feststellte, dass er dank seiner ihm verbliebenen Fähigkeiten ein großes Talent für Pferdewetten besaß. Man konnte durchaus behaupten, dass es recht hilfreich war, vor einem Rennen in den Geist der Tiere einzudringen, um herauszufinden, wer die besten Voraussetzungen besaß zu gewinnen.
Auf diese Weise verdiente er genügend Geld, um ein Leben zu führen, das eines Angelus eher würdig war. Für die Menschen um sich herum interessierte er sich nicht. Ihr Schicksal kümmerte ihn nicht. Und so existierte er unter ihnen wie ein Geist, gefangen zwischen den Welten.
Hemon in seiner Wohnung anzutreffen, war gelinde gesagt eine Überraschung gewesen. Noch viel mehr erstaunt hatte ihn allerdings, dass er sich fast darüber gefreut hatte, seinen alten Kontrahenten zu sehen. Selbst wenn zwischen seinen Ansichten und jenen, die der Oberste der Cherubim vertrat, stets Welten gelegen hatten, so stand Hemon ihm doch näher als jeder Mensch. Zugleich war Ash aber auch misstrauisch geblieben.
„Was willst du?“, hatte er gefragt. „Bist du gekommen, um dich an meinem Niedergang zu weiden?“
Doch wie sich herausstellte, war der Grund dafür, dass der Cherub ihn aufsuchte, ein ganz anderer: Er sollte eine ganz bestimmte Frau ausfindig machen und in Sicherheit bringen, ehe die Schergen der Finsternis sie in die Hände bekamen. Über das Warum schwieg Hemon sich aus, und er erklärte Ash auch nicht, warum die andere Seite daran interessiert sein sollte, einen einfachen Menschen in ihre Gewalt zu bringen. Klar war hingegen, warum er sich mit seinem Auftrag ausgerechnet an Ash wandte: Er hatte sein Talent als Jäger über Äonen hinweg bewiesen, und genau diese Fähigkeiten waren es, die man jetzt dringend brauchte.
Nur aus diesem Grund kam man auf ihn zu: weil er der Beste war und man seine Hilfe brauchte.
„Bring sie einfach zu uns, der Rest
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