Im Bannkreis Des Mondes
Hamilton sich große Mühe, so zu tun, als gebe es Abigail überhaupt nicht.
Sobald den beiden Mädchen klar geworden war, welche Auswirkung Abigails Taubheit auf die Zuneigung der Eltern hatte, war ihnen bewusst, dass niemand sonst davon erfahren durfte.
Emily hatte sich stets gesorgt, dass man Abigail nicht nur mit Ablehnung begegnen, sondern sie auch als verflucht ansehen würde. Als ältere Schwester hatte sie es sich daher zur Aufgabe gemacht, Abigail zu helfen, ihr Leiden vor den anderen Burgbewohnern zu verbergen. Sie hatte unermüdlich mit Abigail gearbeitet und ihr beigebracht, von den Lippen abzulesen und weiterhin mit wohlmodulierter Stimme zu sprechen.
Emily war eine strenge Lehrmeisterin, aber Abigail hatte stets gewusst, dass ihre Schwester nur deshalb so unermüdlich um sie kämpfte und sie zum Üben anhielt, weil sie ihr eine bedingungslose Liebe entgegenbrachte. Dennoch hatte es oft Zeiten gegeben, in denen Abigail sich gefragt hatte, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie nicht mehr aus dem Fieberwahn aufgewacht wäre. Nur aus Liebe zu Emily hatte Abigail diese Zweifel nie in Worte gefasst.
Sie hatte der Stiefschwester, die sie so sehr liebte und die sie besser behandelte als ihre leibliche Schwester, nicht wehtun wollen. Abigail vermisste Emily so sehr …
Ohne deren Hilfe war Abigails Stimme in den letzten beiden Jahren leiser geworden, sodass sie jetzt zu kaum mehr als einem Flüstern in der Lage war. Es war schon schwer genug, zu sprechen; doch ohne Emilys ständige, geheime Hinweise war es schier unmöglich. Wie gut Emily mit Abigail das Sprechen geübt hatte, zeigte sich allein schon daran, dass in den zwei Jahren, seit ihre Schwester nach Schottland gegangen war, niemand von der Dienerschaft ihr Geheimnis entdeckt hatte.
Abigail lebte auf den Tag hin, an dem sie es ihrer Schwester gleichtun und die Burg der Hamiltons verlassen durfte.
Sir Reubens Verhalten ihr gegenüber hatte sich im Laufe der Zeit verbessert, nachdem er erkannt hatte, dass sie ihn nicht dadurch in Verlegenheit brachte, indem sie ihr Gebrechen anderen offenbarte. Aber ihre Mutter hatte mehr als einmal deutlich gemacht, dass Abigail für sie nichts als ein Klotz am Bein war. Was eine aussichtsreiche Vermählung betraf, hatte sie ihre Hoffnungen einzig und allein auf Jolenta gesetzt.
Dennoch hatte Lady Sybil Emilys erste Bitte, Abigail zu ihr in die Highlands auf einen ausgedehnten Besuch zu schicken, abgelehnt.
Abigail verstand einfach nicht, warum. Es sei denn, ihre Mutter hasste sie so sehr, dass sie den Gedanken nicht ertrug, dass Abigail glücklich war. Denn das wäre sie, wenn sie erst mit dem einzigen Menschen auf Erden wieder vereint war, der sie aus tiefstem Herzen liebte und sich nach ihrer Gesellschaft sehnte.
Abigail verbrachte einen Großteil ihrer Tage allein. Gott sei’s gedankt, dass Emily sie nicht nur im Lippenlesen, sondern auch im Lesen und Schreiben unterwiesen hatte. Obwohl die Briefe rar waren, blieben sie die einzige Verbindung zu Emily, seit diese in den Norden gegangen war, um einen Highlander zu heiraten. Abigail las die Bücher, die zu lesen Sir Reuben ihr erlaubte, sowie die Briefe, die Emily zurückgelassen hatte und die von ihrer Freundin, einer Äbtissin, stammten. In den vergangenen sechs Monaten hatte Abigail begonnen, selbst mit der gelehrten Frau zu korrespondieren. Ihr fehlendes Gehör würde eine Freundschaft, die auf dem geschriebenen Wort gründete, nicht beeinträchtigen.
Die Haushälterin Anna war freundlich, aber stets sehr beschäftigt, weshalb Abigail sie nicht gern bei ihrer Arbeit störte. Dennoch versuchte sie, mit Hilfe der alten Frau, die aus Schottland stammte, ihr Gälisch zu verbessern. Abigail weigerte sich schlicht, die Hoffnung aufzugeben. Irgendwann würde die Mutter doch nachgeben und ihrer Tochter, die in ihren Augen nutzlos war, die Erlaubnis geben, zu Emily in die Highlands zu gehen. Sie musste einfach.
Abigail war überzeugt gewesen, dass dieser Zeitpunkt endlich gekommen sei, als Sybil sie vor einer Woche beiseitegenommen und ihr mitgeteilt hatte, sie werde mit ihr und Sir Reuben auf Reisen gehen. Abigail glaubte, Sybil habe endlich Emilys Flehen nachgegeben, und stürzte sich mit großem Vergnügen in die Vorbereitungen der Reise. Sie war von einer Freude erfüllt, wie sie sie nicht mehr empfunden hatte, seit ihre Schwester fortgegangen war.
Natürlich hatte Abigail auch eine gewisse Sorge gehegt, man könnte sie in ein Kloster stecken. Aber
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