Im Blut vereint
konnten.
Sie betraten die Lobby. Kate sah zu, wie der Fahrstuhl zu ihnen herauffuhr. Fünfzehnter Stock, sechzehnter Stock. Sie atmete tief ein. Sie konnte Marian MacAdam nicht gehen lassen, ohne es ein letztes Mal zu versuchen. »Das Jugendamt würde sehr diskret vorgehen, Mrs MacAdam.«
Marian MacAdam wurde stocksteif. »Ich will nicht, dass Lisa noch mehr verstört wird, weil irgendein Sozialarbeiter in unseren Familienangelegenheiten herumschnüffelt. Danach würde sie auf keinen Fall mehr bei mir wohnen wollen. Und außerdem würde sie einfach lügen.« Einundzwanzigster Stock. Die Aufzugtüren öffneten sich. Marian MacAdam betrat den verspiegelten Fahrstuhl und wandte sich um. »Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen, Ms Lange. Ich dachte, wir könnten die Sache privat lösen.«
Kate sah noch die Tränen in den wasserblauen Augen ihrer Mandantin, dann schlossen sich die Aufzugtüren.
3
Kate beobachtete, wie sich der Aufzug mit Marian MacAdam darin langsam nach unten bewegte. Und auch mit ihrer Stimmung ging es bergab. So etwas Beschissenes ausgerechnet zum Wochenende! Rasch verließ sie das Foyer. Verdammt. Jetzt würden ständig diese Zweifel an ihr nagen. Und die würden an Dinge rühren, die sie seit zwei Wochen zu unterdrücken versuchte. An Erinnerungen, die wie eine Meereswelle mit jedem Tag an Wucht gewannen und ihr seelisches Gleichgewicht zu erschüttern drohten.
Sie atmete tief durch. Sie würde das nicht zulassen. Das durfte sie nicht.
Verdammt. Vielleicht sollte sie wirklich beim Jugendamt anrufen. Aber das wäre ein großer Schritt. Ein sehr großer. Ohne greifbaren Beweis für Fehlverhalten wollte sie das nicht wagen. Dem Jugendamt zu melden, dass Lisa manchmal nicht pünktlich zum Abendessen bei ihrer Großmutter erschien, wäre
die
Lachnummer in der Kanzlei. Sie würden sehr viel mehr Beweise dafür brauchen, dass Lisa gefährdet war, bevor irgendein Richter beschloss, Richterin Carson das Sorgerecht für ihre Tochter zu entziehen. Nein. Kate würde sich nur blamieren. Und Randall Barrett würde dafür sorgen, dass sie es bereute. Sie eilte den langen Flur zu ihrem Büro entlang. In den Seitengängen herrschte Stille, die Beleuchtung war gedämpft. Der Arbeitstag war zu Ende. Außer für die vielen Arbeitsbienen, die wussten, dass der Honig umso süßer wurde, je länger sie im Bienenstock ausharrten.
Kate warf einen Blick auf den Stapel unerledigter Arbeit auf ihrem Schreibtisch und ging zu der Pausenecke hinüber, die sich ihrem Büro gegenüber befand. Der Kaffee stand bestimmt schon seit drei Uhr nachmittags auf der Wärmeplatte, aber sie brauchte jetzt einen Energieschub. Auf den Geschmack kam es nicht an – nicht wenn man noch mehrere Stunden Arbeit vor sich hatte.
Sie kehrte ins Büro zurück, setzte sich an den Schreibtisch und streifte die Schuhe ab. Dann versuchte sie sich auf die Trennungsvereinbarung zu konzentrieren, an der sie gearbeitet hatte, bevor Randall Barrett vorbeigeschaut hatte. Doch von jedem Blatt Papier blickte ihr Marian MacAdams Gesicht mit den tränenfeuchten Augen entgegen.
Das schrille Klingeln des Telefons unterbrach die Stille. Kate warf einen Blick auf die Uhr: 18:56. Vor langer, langer Zeit einmal hatte ein Anruf am Freitagabend eine Verabredung mit sich gebracht.
Sie nahm vor dem zweiten Klingeln ab.
»Kate?« John Lyons’ kultivierte Stimme drang an ihr Ohr. Sie richtete sich auf. Seit Wochen hatte sie nichts von ihm gehört. Er schaute zwar ab und zu nach ihr, hatte sie aber noch an keinem seiner Fälle arbeiten lassen. Und das wurmte sie.
»Hallo John.« Sie hielt den Hörer fest umklammert.
»Ich weiß, es ist schon spät.« Was für eine angenehme Stimme er doch hatte. Freundlich, aber respektvoll. Wie ein Gentleman. Kates Griff um den Hörer lockerte sich. »Haben Sie heute Abend noch etwas vor, oder können Sie in mein Büro kommen?«
Sie hatte abends nichts mehr vorgehabt, seit sie zu Silvester mit Ethan Schluss gemacht hatte. Um 0:34 Uhr, um genau zu sein. Sieben Tage und drei Stunden, nachdem er sie geküsst und ihr einen Ring an den Finger gesteckt hatte. Vor einhundertsiebzehn Tagen. Für jeden einzelnen dieser Tage trug sie eine Kerbe im Herzen.
Wusste John Lyons, dass ihre Verlobung geplatzt war? »Ich komme hoch.«
Kate legte auf, griff in die Seitenschublade und trank naserümpfend einige Schlucke Maaloxan. Jetzt würde sie bis zum Abendessen durchhalten. Sie holte das Puderdöschen hervor und puderte sich die Nase. Wie müde
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