Im Gewand der Nacht
konnte wie Schaufensterpuppen. Ihm war schon wieder zum Heulen zumute, doch er hatte keine Tränen mehr. Stattdessen zog er Tepes Mobiltelefon aus der Tasche.
Es war bei den persönlichen Sachen gewesen, die man İkmen überlassen hatte, damit er sie Aysel Tepe zurückgab. Bevor er es ihr jedoch aushändigte, wollte er zur Sicherheit die Nachrichten abhören, und als er die Mailbox anrief, war tatsächlich eine Botschaft hinterlassen worden.
»Es tut mir Leid, Orhan«, sagte Ayşe Farsakoğlu mit gedämpfter, elender Stimme. »Ich fühle mich so allein. Ich vermisse dich. Bitte ruf mich an.«
Verzweiflung. Das Bedürfnis nach Nähe um jeden Preis – ein universelles und, wie İkmen fand, wunderbares Verlangen. Denn darum ging es doch letztlich, oder nicht? Männer und Frauen mochten von denen, die sie nicht kannten, herumgeschubst werden, aber wenn es ihnen gelang, Nähe zu finden, einen Schutzwall gegen die ständig lauernde Finsternis zu errichten …
Als er die Nachricht gerade löschte, kam Fatma herein und küsste ihn auf die Stirn. Mit unvermitteltem Elan sprang er auf und umarmte sie leidenschaftlich.
Drei Tage später verabredete İkmen sich mit seinen Kollegen zum Frühstück. Um diese Tageszeit war die Hitze noch nicht so drückend, und auf den Kais von Eminönü drängten sich noch nicht so viele Pendler und Touristen wie am späteren Vormittag. Außerdem kamen sie auf diese Weise rechtzeitig zur Rückkehr der Fischerboote: Der Fang war eingeholt und wurde jetzt von den Fischern, die speziell für die Touristen ihre reich verzierten osmanischen Westen angezogen hatten, gegrillt. Metin İskender kaufte gerade eins der ausgezeichneten Fischbrötchen, während İkmen, fast völlig verborgen hinter einer Ausgabe der Cumhuriyet, auf einer Bank an der Straße saß. İskender fragte ihn, ob er auch eins wolle, doch er lehnte ab.
Mehmet Süleyman lächelte. İkmen würde es wahrscheinlich nie schaffen, vernünftig zu essen. Vielleicht lag das daran, dass er, genau wie Süleyman, niemals richtig gehungert hatte. Die İkmens waren zwar alles andere als reich, aber sie waren auch nie so arm gewesen wie Metin İskender, für den frischer Fisch noch immer ein Festessen zu sein schien.
Süleyman beobachtete die Fischer und dachte zufrieden, wie überaus angenehm der Morgen bisher gewesen war. Zelfa wirkte sehr viel glücklicher, seit sie einen festen Termin vereinbart hatten, an dem sie wieder zur Arbeit zurückkehren würde. Das bloße Wissen darum schien sie beruhigt zu haben, und zumindest in den vergangenen zwei Tagen war sie viel entspannter mit ihrem Sohn Yusuf umgegangen. Überraschenderweise hatte sie sogar leichtes Bedauern darüber geäußert, in ihre Praxis zurückkehren zu müssen. Sie hatte gemeint, sie fange gerade an, die Zeit mit dem Baby zu genießen, und werde den Kleinen bestimmt vermissen, wenn Estelle Cohen in vier Wochen seine Betreuung übernahm. Das Leben war schön, fand Süleyman – oder es hätte schön sein können, wenn da nicht diese schreckliche Dunkelheit gewesen wäre, die die Ereignisse beim Yıldız-Palast noch immer umgab.
Als İskender sich mit einem riesengroßen Fischbrötchen zu ihnen auf die Bank setzte, räusperte İkmen sich, legte die Zeitung aber nicht beiseite. »Hikmet Sivas ist tot«, sagte er tonlos. »Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Offenbar haben die Eindringlinge anschließend sein Haus niedergebrannt. Es müssen die dümmsten Brandstifter gewesen sein, die man sich vorstellen kann; sie haben sich so ungeschickt angestellt, dass sie selbst dabei ums Leben gekommen sind.«
»Wer waren sie?«, fragte İskender kauend.
»Das weiß offenbar niemand.« İkmen faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf seinen Schoß. »Aber Fräulein Hale besteht darauf, dass sein Leichnam überführt wird. Sie glaubt, dass er erst dann Frieden finden wird, wenn er neben seiner Mutter und Vedat ruht. Bei Letzterem bin ich mir allerdings nicht so sicher.«
Süleyman steckte sich eine Zigarette an und seufzte. »Ich wünschte, ich wüsste, wie und wann er nach Amerika zurückgekehrt ist. Ich wünschte, ich wüsste irgendetwas von der Wahrheit.«
»Du weißt, dass Vedat Sivas sich mit Schiwkow eingelassen hatte«, sagte İkmen und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. »Außerdem weißt du, dass Schiwkow Kaycee Sivas getötet hat.«
»Aber ich weiß nicht, warum«, fauchte Süleyman.
»Nein.«
Begleitet von İskenders genüsslichem Schmatzen saßen die drei
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