Im Gewand der Nacht
hätte İkmen sich unbehaglich gefühlt, doch unter den gegebenen Umständen kam er sich vor wie ein Betrüger. Abgesehen davon, dass er im Yıldız-Park vieles erfahren hatte, was er nicht hätte erfahren sollen, hatte er schließlich gar nichts getan. Er hatte genauso wenig wie alle anderen dafür gesorgt, dass Schiwkow für irgendetwas bezahlen musste. Der Bulgare hatte ein gewalttätiges, zweifellos aufregendes und erfülltes Leben geführt, hatte geplündert und gemordet, wohin er kam, und seinen Spaß dabei gehabt. Selbst im Tod hatte er noch Glück: Man hatte ihn sauber und schmerzlos erschossen. Für eine Bestrafung oder für Vergeltung war zumindest hier auf Erden keine Zeit geblieben.
Nein. Schiwkow war frei, aber diese trauernde Mutter? İkmen spürte, wie ihm Tränen des Mitleids, der Trauer und Enttäuschung in die Augen schossen. Ohne ein weiteres Wort an die nach wie vor zu seinen Füßen kauernde Frau verließ er die Küche und stürzte hinaus ins Treppenhaus. Vor seiner Wohnungstür ging er in die Knie und weinte. Hinter der Tür, dem Eingang zu dem, was er stets für seinen eigenen, ganz privaten Bereich gehalten hatte, hörte er seine jüngeren Kinder spielen. Unter Tränen fragte er sich, wer vielleicht sonst noch zuhörte, und für einen Moment loderte Wut in ihm auf, die so heftig war, dass er selbst davor erschrak. Wie konnten sie es wagen! Wer immer sie waren und welche Motive sie auch haben mochten, wie konnten sie es wagen, ihm und seiner Familie so etwas anzutun, ihm die wenigen Gewissheiten seines Lebens zu rauben!
28
In den frühen Morgenstunden des folgenden Tages wurden Celal und Ekrem Müren in der Wohnung ihres toten Vaters aufgespürt. Vor Trauer völlig verzweifelt, hatten sie sich hinter der Tür verschanzt und weigerten sich standhaft, sich zu ergeben. Deshalb gab İsak Çöktin seiner kleinen Truppe den Befehl, gewaltsam in die Wohnung einzudringen. Çöktin, der seine Männer wie immer selbst anführte, entging nur knapp einer Kugel aus Ekrems Pistole; ein weiterer Beamter wurde am Bein getroffen.
Die Polizei brauchte länger als erwartet, um die Situation unter Kontrolle zu bringen, denn die Brüder wehrten sich mit brutaler Entschlossenheit. Das Feuergefecht endete schließlich mit Celais Tod und einer Brustverletzung bei Ekrem. Das war nicht das Ergebnis, das die Beamten sich erhofft hatten, und deshalb rief Çöktin direkt bei Ardiç an und nicht bei İkmen, von dem er wusste, dass er vollkommen erschöpft war. Ekrem musste ohnehin erst im Krankenhaus behandelt werden, bevor İkmen ihn verhören konnte, und Celais Leiche wurde in die Gerichtsmedizin gebracht. Als die Beamten gerade abrücken wollten, tauchte Alev Müren, die kleine Ausgeburt der Hölle, mit ihrer Großmutter auf; mitfühlende Nachbarn hatten sie im Haus der alten Frau in der Türbedar Sokak benachrichtigt. Unter den neugierigen Blicken der hinter Gardinen und Jalousien verborgenen Nachbarn beschimpften sie die Polizisten kreischend als Mörder. Als Alev auch noch auf Wachtmeister Yıldız losging, bereitete Çöktin der seltsamen Totenwache ein angemessenes Ende, indem er die beiden Frauen verhaftete. Selbst für einen Stadtteil wie Beyazıt war die ganze Aktion ein höchst dramatisches Ereignis.
Dagegen begann İkmen den Tag überaus gemächlich. Am Abend zuvor war er mit kaum mehr als drei Worten der Erklärung gegenüber seiner Familie ins Bett gesunken und hatte tief und traumlos geschlafen. Als er die Augen schließlich wieder aufschlug, sah er durch das Fenster die ungewohnt hoch am Himmel stehende Sonne und am Fußende des Ehebetts seine Frau Fatma, die ihn eindringlich anblickte.
»Es tut mir Leid, Çetin«, sagte sie, wobei sie die alten Messingstreben wienerte, »aber du hast Besuch.«
»Ardiç …«
»Nein. Wenn es irgendjemand von der Arbeit gewesen wäre, hätte ich ihn ohne Ansehen der Person weggeschickt«, erwiderte Fatma. »Nein, es ist ein Freund, Çetin.«
»Oh.« Seine Stimme klang heiser und belegt, und als er die Beine aus dem Bett schwang, um seine Kleidung vom Boden aufzuheben, bekam er einen heftigen Hustenanfall. »Wer ist es?«
»Arto«, sagte sie, »und Fräulein Yümniye Heper.«
İkmen blickte sie mit schläfrigen Augen überrascht an.
»Das arme Fräulein Muazzez«, fuhr Fatma fort. »Ich wusste nicht, dass sie gestorben ist. Was für eine schreckliche Geschichte!«
İkmen trat auf sie zu und sagte: »Ich bin so froh, dass du wieder da bist.«
Sie lächelte, und er
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