Im Gewand der Nacht
hören?«
»Canan wohnt zurzeit bei meiner Schwester«, erwiderte Hürrem. »Das ist für sie im Sommer besser. Dort hat sie ihre Cousinen, mit denen sie spielen kann …« Sie schaute zu Boden.
Hülya kam aus der Küche.
»Bist du gestern Abend zusammen mit Hatice nach Hause gekommen?«, fragte İkmen seine Tochter. Die Mädchen gingen für gewöhnlich nach der Arbeit gemeinsam nach Hause, so wie man es ihnen aufgetragen hatte. Sultanahmet konnte an heißen Sommerabenden ein recht raues Pflaster sein.
»Ja«, antwortete Hülya. »Warum?«
»Hast du gesehen, wie sie in die Wohnung gegangen ist?«, fragte İkmen.
Hülya senkte den Blick. »Ja. Zumindest stand sie vor der Tür.«
»Du hast sie also nicht hineingehen sehen?«
»Keine Ahnung.« Hülya zuckte die Achseln. »Vielleicht.«
İkmen seufzte und wandte sich dann mit einem dünnen Lächeln an Hürrem. »Es tut mir Leid, Frau İpek«, sagte er, »aber wie Sie hören, war der Geist dieses Teenagers gestern nicht allzu wach.«
Hürrem reagierte mit einem kleinen, verständnisvollen Lächeln.
»Ich verstehe«, sagte sie. »Sicher gibt es dafür eine vernünftige Erklärung. Aber falls Sie irgendetwas hören oder sehen …«
»… lassen wir es Sie natürlich sofort wissen«, erwiderte İkmen und geleitete seine Nachbarin aus der Wohnung. »Vielleicht hat sie nur ein wenig ferngesehen und ist dann weggegangen. Kinder tun heutzutage solche Dinge – meine jedenfalls.« Und mit einem Lächeln fügte er hinzu: »Hatice ist ein gutes Mädchen. Ich bin sicher, dass mit ihr alles in Ordnung ist.«
»Ich danke Ihnen.«
Nachdem er die Tür hinter Hürrem geschlossen hatte, wandte İkmen seine Aufmerksamkeit wieder seiner Tochter zu.
Dabei fiel ihm auf, dass sie noch immer wie gebannt vor sich auf den Boden blickte.
»Warum«, fragte er, »habe ich dieses merkwürdige Gefühl, dass du mehr über Hatices Aktivitäten am gestrigen Abend weißt, als du zugeben willst?«
Es hieß, in manchen Vierteln gebe es wesentlich bessere Geschäfte als das an der Ecke Kutlugün Sokak und Dalbastı Sokak. Einige dieser Läden boten neben den traditionellen Lebensmitteln auch Kinderspielzeug, Handyhüllen und sogar preiswerte Kleidung an. Aber kein anderer Laden – oder zumindest kannte Neşe Fahri, die in den siebziger Jahren nach Istanbul gezogen war, keinen – konnte sich eines Besitzers rühmen, der aus demselben Dorf stammte wie sie. Obwohl Selim viele Jahre älter war als Neşe, hatte er nicht nur in derselben Straße gewohnt wie sie, sondern auch ihren inzwischen verstorbenen Ehemann Adnan gekannt. Und diese Tatsache war für Neşe wertvoller als Gold. Denn ganz gleich, was Adnan Fahri sonst noch gewesen war – arbeitsscheu, treulos –, so war er doch der Vater ihres Sohnes Turgut und ihrer Tochter Fatima, und für Neşe würde er immer die Liebe ihres Lebens bleiben.
Als sie das Geschäft betrat, erhob der Ladenbesitzer sich hinter einer großen Kiste mit Winston-Zigaretten.
»Guten Morgen, Neşe«, sagte er, »ich hoffe, es geht Ihnen gut.«
»Allah beschenkt diese alte Frau nach wie vor mit guter Gesundheit, Selim Bey«, erwiderte Neşe und benutzte dabei die traditionelle Höflichkeitsform. Wenn der Große und Barmherzige doch auch ihrem Adnan eine solche Gnade erwiesen hätte, dachte sie mit einem traurigen Lächeln.
»Es freut mich sehr, das zu hören«, erwiderte Selim. »Und was macht Turgut?«
»Dem Jungen geht es gut«, seufzte Neşe und beugte sich vor, um den gläsernen Brotschrank zu öffnen und ein leicht gewölbtes Fladenbrot herauszunehmen. »Er arbeitet immer noch als Kellner, aber es geht ihm gut. Haben Sie grüne Oliven?«
Selim griff nach unten in die Kühltheke und runzelte dann die Stirn. »Nein. Aber ich habe hervorragende schwarze.«
»Hmm«, sagte Neşe unschlüssig. »Also gut – wenn Sie sie empfehlen können, Selim Bey.«
»Das kann ich.«
»Dann tragen Sie bitte ein halbes Kilo ins Buch ein.«
Der Ladenbesitzer machte sich daran, die Oliven abzuwiegen, und nickte dabei kurz einem jungen Mann zu, der hereinkam, sich ein Päckchen Zigaretten nahm, ein paar Geldscheine auf die Theke legte und wieder hinausging.
Neşe blickte sich um, und als sie sich vergewissert hatte, dass niemand anderes im Laden war, beugte sie sich zu Selim vor.
»Schreiben Sie bitte auch noch eine gute, stabile Schaufel auf, falls Sie eine haben«, sagte sie.
»Oh, für Sie habe ich immer eine, Neşe«, erwiderte der Ladenbesitzer und zwinkerte ihr
Weitere Kostenlose Bücher