Im Gewand der Nacht
Hauses zu ihm drang. Zelfa! Er ließ den Stapel Papiere fallen, den er in Händen hielt, und stürmte die Treppe hinauf. Als er die Schlafzimmertür öffnete, sauste Patrick, der fünfzehn Jahre alte Kater seiner Frau, an ihm vorbei, vermutlich um sich aus Zelfas Reichweite zu verdrücken.
Seine Frau, die er eine halbe Stunde zuvor schlafend zurückgelassen hatte, saß aufrecht im Bett, das Gesicht gerötet und schmerzverzerrt.
»Was ist? Geht es los?«, fragte er, während er auf ihre Seite des Betts lief und einen Arm um ihre zitternden Schultern legte.
Statt einer Antwort schlug Zelfa die Bettdecke zurück und starrte keuchend auf den Bezug. Die gesamte Unterseite der Decke sowie das Laken waren mit rosaroter, blutiger Flüssigkeit durchtränkt.
»Sieht so aus, als wäre es Zeit, ins Krankenhaus zu fahren«, meinte ihr Mann. Er richtete sich auf, ging zum Schrank und nahm einen Koffer und einen Wintermantel heraus.
Zelfa sah ihm immer noch keuchend zu und runzelte die Stirn. »Das kann ich doch nicht anziehen«, sagte sie auf Englisch, mit ihrem rauen irischen Akzent. »Darin krieg ich einen Herzinfarkt.«
Mehmet legte den Mantel locker um ihre Schultern.
»Du kannst aber auch nicht nur mit einem Nachthemd bekleidet auf die Straße«, entgegnete er. »Ich mache im Wagen einfach die Klimaanlage an. Das wird schon gehen.«
»Oh mein Gott!«
Mehmet half Zelfa, die geschwollenen Beine aus dem Bett zu schwingen, und zog sie vorsichtig auf die Füße.
Für eine Frau wie Zelfa – eine Psychiaterin, die ihre Kindheit in Irland verbracht hatte – war es irgendwie seltsam, ja geradezu unfassbar, dass ihr Körper so einen riesigen Umfang angenommen hatte. Andererseits hatte sie während ihrer Schwangerschaft ständig Heißhunger auf Schokolade gehabt und Unmengen davon verdrückt, was aber immer noch besser war als ihr früherer Zigarettenkonsum.
»Ich bin wie eines dieser Spielzeuge«, sagte sie, während sie sich mit Hilfe ihres Mannes zur Schlafzimmertür schleppte.
»Wie eine dieser dicken Clownsfiguren, die nicht umfallen können, sondern immer wieder in die aufrechte Position zurückkehren.«
»Wenn unser Sohn erst einmal geboren ist, wirst du dich besser fühlen«, beruhigte Mehmet sie. Beim Gedanken daran wurde ihm ganz heiß, und sein Herz begann zu rasen. Sein Sohn! Endlich würde er das Licht der Welt erblicken – eine Tatsache, die Mehmet mit großer Vorfreude erfüllte, aber auch mit großer Sorge. Selbst heute noch, zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, kam es vor, dass Kinder bei der Geburt starben. Außerdem stand Zelfa kurz vor ihrem achtundvierzigsten Geburtstag, und dieser kleine Junge war ihr erstes und vermutlich auch letztes Kind.
Als sie die Treppe hinuntergingen, drückte Mehmet seine Frau und sein Kind fest an sich.
»Der Pathologe sagt, sie stammen von einem Mädchen, das noch nicht ganz ausgewachsen war«, sagte Orhan Tepe und breitete die Fotos von den Hüft- und Oberschenkelknochen vor seinem Vorgesetzten, Çetin İkmen, aus.
»Okay, dann sollten Sie als Nächstes die Liste der vermissten Erdbebenopfer aus dem betreffenden Gebiet überprüfen«, erwiderte İkmen. Es war nicht das erste Mal, dass sie versuchen mussten, einzelne Körperteile den Namen derjenigen zuzuordnen, deren sterbliche Überreste nach der Katastrophe von 1999 nie gefunden worden waren. Obwohl das Erdbeben jetzt fast zwei Jahre zurücklag, wurden die traumatisierten Überlebenden ständig erneut in Angst und Schrecken versetzt, wenn ihre Gärten und Parkplätze wieder einmal Knochen oder andere Überreste von Toten preisgaben. Aber natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass diese menschlichen Überbleibsel ein wesentlich dunkleres Geheimnis hüteten. Denn gab es ein besseres Versteck für ein Mordopfer als die Stadtteile, bei denen es sich praktisch um die reinsten Gräberfelder handelte? Genau deshalb wurden İkmen und seine Kollegen von der Mordkommission in diesen Fällen hinzugezogen. Unnatürliche Todesursachen waren İkmens Spezialität, und der Kampf gegen diejenigen, die solche Verbrechen begingen, hatte ihn fast während seines gesamten Berufslebens angetrieben.
Im Alter von vierundfünfzig Jahren war Çetin İkmen nicht nur unterernährt (wegen der Schmerzen, die ihm seine zahllosen Magengeschwüre bereiteten), sondern auch unterbezahlt und ausgedörrt vom Nikotin. Doch trotz allem hing er an seiner Arbeit. Außerdem hatte er eine Ehefrau, die ihn liebte und unterstützte, und neun
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