Im Gewand der Nacht
gesunde, wenn auch manchmal schwierige Kinder. Dank seiner hervorragenden detektivischen Fähigkeiten und seines scharfen Verstands hatte er es bei der Istanbuler Kriminalpolizei ziemlich weit gebracht, und aufgrund der Unbestechlichkeit, die er sowohl von sich selbst als auch von seinen Mitarbeitern verlangte, war es ihm gelungen, sich die Art von legendärem Ruf zu erwerben, die es ihm gestattete, sich gelegentlich über die Vorschriften hinwegzusetzen, ohne dass seine Vorgesetzten ihn sofort abmahnten. Mit anderen Worten: İkmen war ein Phänomen, und als solches wurde er bewundert, von manchen sogar hofiert. Doch das machte es für seine unmittelbaren Mitarbeiter nicht immer leicht. So hatte beispielsweise sein derzeitiger Assistent, Wachtmeister Orhan Tepe, häufig das Gefühl, von ihm werde mehr erwartet als zumutbar sei. Diese hohen Anforderungen hatten İkmens vorigen Assistenten, Mehmet Süleyman, der inzwischen selbst zum Inspektor aufgestiegen war, nicht weiter gestört. Aber İkmen und Süleyman waren auch aus dem gleichen Holz geschnitzt, wie Tepe sich immer wieder sagte. Er dagegen war anders – was ihn nicht gerade fröhlich stimmte. Aber was konnte einen heutzutage überhaupt noch fröhlich stimmen?
Als die Liste der vermissten Personen im Bezirk Ataköy auf Tepes Computerbildschirm erschien, schob er diese privaten Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des kleinen, voll gestopften Büros, brütete İkmen über einem Stapel Papiere, bis er vom Klingeln des Telefons unterbrochen wurde.
Er nahm den Hörer ab. »İkmen.«
»Papa?«
Es war Hülya, und dem Zittern ihrer Stimme nach zu urteilen, schien sie ziemlich beunruhigt.
İkmen zündete sich eine Zigarette an. »Hallo, Hülya. Was gibt’s?«
»Papa, ich habe gerade Frau İpek getroffen, und sie sagt, Hatice ist noch immer nicht nach Hause gekommen.«
»Tatsächlich?« War es möglich, dass seine Tochter ihm schließlich doch noch erzählen würde, was am vergangenen Abend vorgefallen war, bevor sie und ihre Freundin sich getrennt hatten? İkmen erwartete eine Beichte, aber ob es sich dabei um ein wertvolles Geständnis oder eher um irgendeinen jugendlichen Unsinn handeln würde, wagte er nicht vorherzusagen.
»Hast du mir vielleicht irgendetwas wegen gestern Abend mitzuteilen?«, drängte er. »Oder rufst du nur an, um mich auf dem Laufenden zu halten?«
Während der darauf folgenden Stille am anderen Ende der Leitung beobachtete İkmen, wie Tepe von seinem Bildschirm aufsah und der wohlgeformten Silhouette von Wachtmeisterin Ayşe Farsakoğlu hinterherblickte, die auf dem Flur vorbeiging. Die Begierde, mit der sein junger, verheirateter Mitarbeiter der Kollegin nachstarrte, war so unübersehbar, dass İkmen seinen Stuhl zur Wand drehte.
»Also, Hülya, ich warte.«
»Papa …«
»Ja?«
»Also ehrlich gesagt habe ich gar nicht gesehen, wie Hatice gestern Abend in ihre Wohnung ging.«
Das verwunderte İkmen nicht, obwohl Hülya offensichtlich annahm, für ihn sei es eine Überraschung.
»Wohin ist sie denn dann gegangen, Hülya?«, fragte er. »Nach der Arbeit, nachdem du sie zurückgelassen hast …«
»Ich weiß es nicht.«
»Ach wirklich?«
Er hörte, wie sie schluckte. »Nein, Papa, ganz ehrlich. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Wenn du also nicht weißt, wohin sie gegangen ist, weißt du dann vielleicht, was sie vorgehabt hat?«
»Ach Papa, ich habe versprochen, nichts zu sagen.«
İkmen drehte sich mit finsterer Miene wieder zu seinem Schreibtisch um. Glücklicherweise widmete Tepe sich erneut seiner Arbeit. Nicht, dass İkmen dies besonders zur Kenntnis genommen hätte – er war viel zu verärgert über seine Tochter, um sich über die kleinen Sünden seines Mitarbeiters aufzuregen. Wie İkmen aus trauriger Erfahrung wusste, konnten Geheimnisse zwischen Teenagern sich als sehr gefährlich entpuppen.
»Hülya, du willst es mir doch erzählen, sonst hättest du mich wohl kaum angerufen. Also schieß los«, sagte er.
»Aber Papa, dann wirst du bestimmt furchtbar sauer sein.«
»Da ich jetzt schon ziemlich sauer bin, hast du nichts zu verlieren, oder?«
»Papa …«
»Wenn es irgendetwas mit Ahmet Sılay oder irgendeinem anderen Theatermenschen zu tun hat, mit dem ihr Mädels über eure schauspielerischen Ambitionen gesprochen habt …«
»Woher weißt du das?« Sie klang empört und schockiert zugleich. »Hast du mit Herrn Sılay gesprochen?«
»Nein«,
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