Im Herzen der Zorn (German Edition)
und schlang die Arme um den Körper. Die Kälte schien jetzt bis in ihr Innerstes zu reichen. Sie wollte nach Hause.
Em gelang es, durchs Fenster Dreas Aufmerksamkeit zu erregen. Dringend , gab sie ihr Handzeichen. Und dann fuhren sie heim, ohne dass Drea irgendwelche Fragen stellte.
Sie sagte erst etwas, als sie sich Ems Haus näherten. »Sollen wir uns morgen was zum Mittagessen holen?«, erkundigte sie sich. »Delikatessenladen? Ich hab so unheimlich Heißhunger auf ein ausgefallenes Sandwich.«
»Ähm, ich weiß nicht.« Em war in diesem Moment nicht einmal in der Lage, sich vorzustellen, am nächsten Tag in die Schule zu gehen. Ihr Magen schmerzte, genau wie ihr Herz, wenn sie daran dachte, wie wütend JD war. Dass sie nichts tun konnte, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen. »Ich meine, irgendwann später diese Woche vielleicht oder …« Sie verstummte, als sie einen Schimmer von Weiß zwischen den mondbeschienenen Bäumen am Ende der Straße aufblitzen sah. Sie spähte angestrengt aus dem Fenster und versuchte, mehr zu erkennen. »Fahr mal langsam«, sagte sie.
Tatsächlich, da hing etwas Weißes in der Eiche neben dem kleinen Park. Es war ein Stück Segeltuch, genau so eines, wie JD und sie als Signalflagge benutzt hatten, als sie noch klein gewesen waren. Er hatte es immer an sein Baumhaus gehängt, zum Zeichen, dass sie ihn dort treffen sollte. Sie hatte schon seit Jahren nicht mehr an die Flagge gedacht, doch als sie sie jetzt sah, begann ihr Herz, schneller zu schlagen.
»Kannst du mich hier rauslassen?« Em war klar, dass das ein seltsames Anliegen an diesem dunklen, kalten Abend war, aber sie wusste auch, dass Drea kein Problem damit haben würde.
»Ein bisschen frisch für einen Abendspaziergang, findest du nicht?« Drea hielt das Auto an und stellte keine weiteren Fragen.
»Bis morgen, D«, sagte Em. Die Worte kamen langsam, als wäre sie in Trance – sie war unfähig, den Blick von der provisorischen Flagge abzuwenden. Eine Nachricht von JD war es bestimmt nicht. Aber der Zufall war einfach zu groß. Sie musste der Sache nachgehen.
Während Drea davonfuhr, knirschten Ems Füße über das gefrorene Gras zu dem Segeltuch hinüber. Auf Zehenspitzen reckte sie sich, um die Flagge, die der Wind mehrfach um den Zweig der Eiche gewickelt hatte, zu lösen. Während sie sich mit frierenden Fingern mit dem Stoff abmühte, dachte sie an die Tage zurück, die sie damit verbracht hatte, JD rund um die kleine Einzäunung zu jagen, die den Park umgab. An den Nachmittag, als sie beschlossen hatten, ihre Eltern »auszutricksen«, indem sie ihnen Plastikameisen auf ihre Käseplatte legten. An den Abend, an dem sie gemeinsam auf JDs kleine Schwester Melissa aufgepasst hatten und sie hierherbrachten, um Fangen mit ihr zu spielen. Vielleicht hatte Melissa ja mit der Flagge gespielt und sie war auf diese Weise hierhergekommen? Aber nein, selbst Melissa war inzwischen zu alt für so etwas.
Ein Windstoß schüttelte die Flagge schließlich los. Sie klappte auf und schlug Em mit den Rändern ins Gesicht.
»Autsch«, sagte Em ins Leere und fasste sich an die Wange. Sie ließ die Flagge los und schnappte nach Luft, als das Stück Stoff plötzlich vollständig sichtbar wurde. In der Mitte klaffte ein hässliches großes Loch, als hätte die Klaue eines wilden Tieres es hineingerissen. Jahrelanges Spielen hatte das Material kein bisschen verschleißen lassen, doch nun war es praktisch zerfetzt.
Und dann, aus dem Nirgendwo, der leise Klang weiblichen Lachens. Em fuhr herum, befreite sich aus der Flagge, als die sich um ihr Handgelenk wickelte.
»Melissa?«, rief sie auf den dunklen Spielplatz hinaus. »JD?«
Keine Antwort.
Em musste schlucken. Vor gar nicht langer Zeit, im Dezember, hatte sie hier auf der Schaukel gesessen und einen Zettel in ihrer Tasche gefunden. Reue ist manchmal nicht genug . Eine Nachricht von den Furien. Der Gedanke daran ließ ihre Hände vor Angst verkrampfen.
Da war es wieder. Dieses schauerlich-schöne Lachen.
Sie erkannte den Klang. Sie würde ihn überall erkennen.
Die Furien. Sie waren hier.
Warum waren sie zurückgekehrt? Sie war doch schon bestraft worden. Warum tauchten sie hier auf und warum jetzt? Würden sie immer wieder in ihr Leben treten, wenn ihnen gerade danach war? Sie dachte an die Bruchstücke der Geschichte, die sie JD auf dem Parkplatz verraten hatte. Wussten die Furien davon? Waren sie deshalb zurückgekehrt? Hatte sie sie zurückgeholt?
Sie drehte den Kopf
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