Im Herzen der Zorn (German Edition)
Abend am Telefon gesagt, »und danach sehen wir weiter.«
Aber Skylar und Nora hatten beide die Wahrheit gekannt: Skylar würde für immer nach Ascension ziehen. Schon vor Lucys Unfall war das Leben in Alabama schlimm gewesen, doch während des vergangenen Jahres war es unerträglich geworden. Ihre Mom hatte mehr getrunken als je zuvor und im Haus herumgetobt, wenn sie einmal nicht gerade teilnahmslos vor dem Fernseher saß und rauchte. Sie hatte irgendwelche Kerle mit nach Hause gebracht, die sich nicht einmal die Mühe machten, so zu tun, als wollten sie Skylars Namen lernen. Zu der emotionalen Distanz, die Skylar schon jahrelang empfunden hatte, war auch noch physische Distanz gekommen. Sie hatte ihre Mutter oft tagelang nicht gesehen und manchmal hatte sie sie noch nicht einmal vermisst. Ihr Leben war zu einem Albtraum geworden.
Im Grunde genommen hatte Nora Skylar gerettet. Und deshalb hatte Skylar sich auch vorgenommen, über all die Eigentümlichkeiten ihrer Tante hinwegzusehen und sich daran zu gewöhnen. An ihr unheimliches enzyklopädisches Wissen über Ascensions Geschichte zum Beispiel und an ihr drolliges Kichern. Abgesehen davon hatte Nora, im Gegensatz zu Skylars Mom, einen festen Job – sie war Zahnpflegerin in einer örtlichen Klinik – und deshalb ein regelmäßiges Einkommen und einen festen Tagesablauf. An nichts von alldem war Skylar in irgendeiner Weise gewöhnt.
Bevor sie sich zum Gehen wandte, fragte Nora: »Möchtest du vielleicht etwas Tee? Ich mache unten gerade welchen.«
»Nein, danke«, erwiderte Skylar. »Tee ist nicht so mein Ding. Aber danke für das Angebot.«
Da war sie wieder, ihre ewige Dankbarkeit. Für so viel. Denn Nora hatte sie nicht nur aus Alabama geholt. Sie ermöglichte es Skylar auch, noch einmal ganz von vorn anzufangen, gab ihr die Chance, ein neuer Mensch zu sein.
»Ich fahre dich morgen früh zur Schule«, sagte Nora, »für den Fall, dass ich wegen der Ummeldung noch etwas ausfüllen muss. Wir sollten so gegen sieben das Haus verlassen, ja? Schlaf ein wenig und lass es mich wissen, wenn du noch etwas brauchst.« Als sie das Zimmer verließ, zog sie sich ihren terrakottafarbenen Schal enger um die Schultern. »Brrr«, hörte Skylar sie noch sagen, während sie wieder die Treppe hinuntertappte. »Was für ein schrecklicher Winter.«
Skylar wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Reisetasche zu, die fast schon leer war. Ganz unten lag noch die große Ausgabe von Aesops Fabeln , die sie bereits als Kind besessen hatte. Sie liebte diese Geschichten schon immer und hatte ihrer Mutter einmal vorgeschlagen, eine davon in der Kategorie »Besonderes Talent« bei einem Schönheitswettbewerb vorzutragen. »Glaubst du ernsthaft, irgendwer will sich dein Gequassel anhören?«, hatte ihre Mom gelästert. Da hatte Skylar stattdessen einen Stepptanz vorgeführt.
Sie schlug das Buch auf und blätterte es durch, betrachtete die altbekannten Bilder. Der Fuchs und die Trauben. Die Ameise und die Heuschrecke. Sie lächelte und blätterte weiter. Schon immer hatte sie Trost in Geschichten gefunden.
Plötzlich ließ sie den Band erschrocken mit einem lauten Knall zu Boden fallen. Ein Foto, das zwischen den Seiten gesteckt hatte, rutschte heraus. Es war ein Bild von ihr und Lucy kurz vor dem landesweiten Schönheitswettbewerb im vorigen Jahr, dem Abend, an dem alles schiefgegangen war. Sie: klein, pummelig und flachbrüstig, wandte sich zur Seite ab. Lucy: groß, schlank und wunderschön, strahlte mit ihren rot geschminkten Lippen in die Kamera und hatte den Arm um Skylars Hals gelegt.
Skylar staunte wie immer über Lucys naturgegebene Schönheit. »Wirklich Pech, dass Lucy das meiste von meinem Aussehen geerbt hat«, hatte ihre Mom sich mehr als einmal lustig gemacht. Ihre Mutter war auch einmal Schönheitskönigin gewesen, bevor das Rauchen ihre Haut stumpf und der viele Alkohol ihren Blick hatte ausdruckslos werden lassen. Sie hatte beide ihrer Töchter dazu angetrieben, die Träume zu verwirklichen, die sie für sich selbst hatte begraben müssen, indem sie sie bei Schönheitswettbewerben und Talentshows anmeldete, kaum dass sie laufen konnten. Für Skylar hatte das wiederholte Demütigung und Zurückweisung bedeutet. Doch Lucy hatte sich selbst übertroffen, bei den Preisrichtern mit ihrer natürlichen Anmut gepunktet, mit ihrem stolzen Gang und ihren Wahnsinns-Tanzschritten. Lucy hatte alle davon überzeugt, dass sie perfekt war.
Fast alle.
Skylar schauderte. Wie war
Weitere Kostenlose Bücher