Im Herzen der Zorn (German Edition)
Moment lang war Em sich sicher, dass er sie ansah.
Sie lehnte sich in dem verschlissenen Sessel zurück und zog ihre dicke Daunenjacke fester um sich, während sie Crow dabei beobachtete, wie er seinen neuesten Song übte: White Noise . Der Klang von schlechten, alten Instrumenten und Jungs, die es liebten, darauf zu spielen, schallte durch die Garage. Em hatte in den vergangenen Wochen ziemlich viel Zeit mit Drea Feiffer und ihren Freunden verbracht, mit dem Resultat, dass sie sich langsam an das Brummen der Verstärker, den dröhnenden Rhythmus des Schlagzeugs und die kreischenden Gitarrensolos gewöhnte. Außer auf Kaffee und B-Movies stand Dreas alternative Clique total auf Musik, besonders auf die Sorte, die sie selbst produzierte.
Heute Abend waren sie in Colin Robertsons »Proberaum« in Portland – falls man einen Vorleger auf Betonboden, ein paar abgewetzte alte Sofas und ein gebrauchtes Schlagzeug überhaupt Proberaum nennen konnte. Aus Colins Namen war schon vor Ewigkeiten die Kurzform C-Ro geworden und dieser Spitzname hatte sich dann bald in Crow verwandelt. Em hatte noch nie gehört, dass irgendjemand ihn anders nannte. Na ja, bis auf die Zeit jedenfalls, als Gabby, sie und ein paar andere ihn als »Ghostface« bezeichnet hatten, kurz bevor er die Ascension Highschool verließ. Nicht nach dem Abschluss etwa … er war nur einfach nicht mehr gekommen. Er war der einzige Schulabbrecher, den Em kannte.
Inzwischen wusste sie, dass er abgegangen war, um Musik zu machen.
Crow schlug die Saiten seiner Gitarre an, leckte sich konzentriert die Lippen und öffnete dann den Mund, um einen Liedvers anzustimmen. Seine langen schwarzen Haare (früher waren sie blond gefärbt gewesen; das hier war deutlich besser) fielen ihm ständig in die gelbgrünen Augen, die immer ein wenig zu blinzeln schienen, so als wäre er noch dabei aufzuwachen oder gerade high.
Im Prinzip bestand Crows Band Crash aus vier Jungs: Crow, der Leadsänger war und die Rhythmusgitarre spielte, Jake, dem Schlagzeuger, Patrick, dem Bassisten, und Mike, der die Leadgitarre spielte. Neue Instrumente konnten sie sich zwar nicht leisten, ihre Fähigkeiten standen jedoch außer Frage. In der geräumigen Lagerhalle, die Crow und die Band billig gemietet hatten, verbrachten noch andere ortsansässige Musiker ihre Zeit. Einer von ihnen spielte Xylofon und ein anderer war berühmt für seine Instrumente »Marke Eigenbau«, zum Beispiel Pinsel auf Backblech oder Schraubenschlüssel an Vogelkäfig.
Em konnte noch immer kaum glauben, dass diese ganze Parallelwelt wirklich existierte. Und erst recht nicht, wie cool das alles war.
»Hey, Em, willst du was abhaben?« Drea hockte auf einer durchgesessenen Couch und hielt einen Becher mit Fertig-Nudelsuppe in die Höhe. In Ascension, Maine, wo Em und Drea wohnten, ernährten alternative Typen sich offenbar hauptsächlich von Instantnudeln in versalzener Fleischbrühe – eine der weniger bekannten Tatsachen, die Em in letzter Zeit erfahren hatte.
Sie verzog das Gesicht und winkte ab. »Nein, danke. Keinen Hunger.«
Der Raum begann sich langsam zu erwärmen – er war eiskalt gewesen, als Em und Drea angekommen waren – und Em fing an, sich aus ihren Klamotten zu schälen. Sie wickelte sich den dicken weinroten Schal vom Hals und schüttelte ihr lockiges Haar aus. Dann stand sie auf, um ihre Jacke abzustreifen, und zog an den Gürtelschlaufen ihrer Jeans, die in letzter Zeit ständig weiter wurde.
Ihre Einstellung zu Crows Gitarrensolos war nicht das Einzige, was sich in den letzten Wochen geändert hatte. Tatsächlich lernte Em dank Drea eine ganz neue Seite von Ascension und seiner Umgebung kennen – und zwar nicht nur den grünen Tee im Powerflower, einem Hippie-Café im Stadtzentrum, das die viel bessere Alternative zum langweiligen Kackuccino in der Nähe des alten Einkaufszentrums darstellte. Sie lernte Ascensions »Nur-gefärbte-Haare-sind-schöne-Haare-Freaks« kennen. So hatten sie und Gabby sie jedenfalls immer genannt. Über diese Seite an sich wollte sie lieber gar nicht nachdenken. Besonders nicht, seit Drea ihr kürzlich die Haare mahagonirot gefärbt hatte.
Zurzeit kam es ihr so vor, als machte sie einen Spagat zwischen zwei Welten, wobei sie sich bei Dreas Freunden und ihrer lauten Musik häufig wohler fühlte als auf den Partys der Ascension.
Crows raue Stimme fiel in einen Refrain ein: »And my voice« , grölte er zum Takt, »it’s white noise.«
Em holte ihr Tagebuch hervor und
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