Im Herzen des Kometen
Simulation trug.
Was war Wirklichkeit?
Neben dem Leichnam lag ein alter Mann auf dem Rücken, einen Helm mit Neuralanschlüssen auf dem Kopf, einen Arm über das Gesicht gelegt. Sie dehnte sich aus, fand Fühler seines Selbst. Das Bewußtsein, das sie berührte, war benommen, halb besinnungslos von den Stürmen, die es überstanden hatte. Aber sie war erleichtert. Das Selbst blieb. Er würde wieder erwachen.
»Saul«, flüsterte sie.
Darauf blickte der andere Mann, der noch immer in seinem abgenutzten Schutzanzug mit der speckigen Brustbinde dastand, in jäher Überraschung zum holographischen Projektionsraum auf. Er starrte mit geweiteten Augen, und seine Lippen bewegten sich stumm, beinahe ehrfurchtsvoll.
»Virginia, bist du es wirklich?« stammelte er.
Sie lächelte. Ein Haiku schrieb sich selbst in den hellen Sand neben dem Wasser der Lagune.
Was ist wirklich?
Wenn die Nacht alle Zeit verschlingt?
Und uns nur Augenblicke bleiben?
»Hallo, Carl«, sagte sie.
Ein schwaches Lächeln. Die Anfänge eines Begreifens. Von Freude in diesem müden, grauen Gesicht.
8
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CARL
Verständnislos beobachtete er die Farbkaskaden auf den Bildschirmen. In der Kälte und Stille war es, als wäre er der letzte Überlebende der Jahre des Wahnsinns, ein einsamer Zeuge des Endkampfes zerbrechlicher, organischer Lebensformen gegen die vordringende Kälte. Ihn fröstelte.
Saul lag absolut still. Neuralanschlüsse machten seinen Kopf zu einem Medusenhaupt von Kabeln, Stahlzylindern und körnigen Silikatflecken. Und um Carl ging ein seltsamer lautloser Kampf vor sich, undeutlich reflektiert in den Bildschirmen und der zentralen holographischen Projektion.
Dort erstand das Bild einer immensen smaragdfarbenen Gestalt, wo Facetten aus den Nischen und von den Kanten hochragender Wolkenkratzer glänzten. Die Gebäude waren durchscheinend, jeder glich einem Ameisenhaufen hin und her schießender Lichtpunkte und sich verschiebender Ebenen, als ob winzige Geschöpfe in Massen durch die Korridore einer Metropole eilten.
Carl verstand, daß dies eine symbolische Darstellung von Virginias Bewußtsein war, ein seit früher Kindheit aufgebautes, vielfach geschichtetes Assoziationsnetz, wie eine Stadt von unten nach oben errichtet. Unter einem einförmigen grauen Himmel schimmerten die Lichter, zeichneten wandernde Funken den Straßenverlauf nach. Hier versank ein Gebäude plötzlich in Dunkelheit, dort strahlte ein anderes im Schein ungezählter Lichter auf. Man konnte den raschen Bewegungen nicht folgen, aber Carl spürte in allem eine hektische Neuordnung, ein insektenhaftes, fiebriges Tempo.
»Was – was ist geschehen?« Lanis ängstliche Stimme zog ihn zurück in die Realität des Augenblicks.
»Saul ist ihr nachgegangen«, sagte er, während er das Geschehen verfolgte. Ein riesiger Ozeandampfer legte am Stadtrand an. Gebäude schmolzen, flossen in das Schiff, das tiefer und tiefer im Wasser lag. »Ich nehme an, er speichert einen Teil ihrer Assoziationsmatrizen in seinem eigenen Gehirn.«
»Ist das möglich?«
»Theoretisch – vielleicht. Virginia hat ihr System seit Jahrzehnten ausgebaut, Johnvon integriert und weiterentwickelt, bis es für einen Außenstehenden wie mich schwierig wurde, zu erkennen, wo sie aufhört und er anfing. Ich konnte nicht einmal ihr Fachchinesisch verstehen.«
»Und wenn Saul in Gefahr gerät? Können wir es erkennen?«
Er preßte die Lippen zusammen. »Wüßte nicht, wie.«
Lani wandte den Blick von dem Gewimmel der Bildschirme. »Es ist so viel, so schnell…«
Er legte den Arm um ihre Schultern. »Und so viel Sterben.«
Sie warteten. Zeit verging. Lani setzte sich auf den Boden und schlief ein. Carl wanderte auf und ab, bis plötzlich eine Anzahl Klopftöne aus dem Akustikteil drang. Ein rasches, hartes Klopfen, gefolgt von einem Knistern und Knacken, und nach einer langen, von undeutlichen Geräuschen und Tönen erfüllten Pause erklang eine Stimme…
»Hallo, Carl.«
Er wandte sich zur Projektion. Körnige Umrisse verschmolzen zu einem Gesicht. Augen erschienen – schwarze Augen, die ebenso überrascht zu sein schienen, wie er es war.
»Verdammt! Bist du es?« Neben ihm regte sich Lani, wurde auf das Geschehen aufmerksam und stand auf.
»Es ist soviel von mir, wie möglich ist.«
Lani schaute verwirrt zu dem leblosen Körper auf der Liege, dann zurück zur Projektion. Dann stellte sie sachlich fest: »Ihre Stimme ist zu hoch.«
»Ich arbeite daran.« Der Ton lag im
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