Im Innern des Wals
»Eine literarische Kritik, welche den Anspruch erhebt, marxistisch zu sein, muß... davon ausgehen, daß kein in der heutigen Zeit geschriebenes Buch »gut« sein kann, wenn es nicht von einem marxistischen Standpunkt
geschrieben ist oder sich ihm nähert.«
Andere Schriftsteller haben gleiche oder ähnliche
Behauptungen aufgestellt. Bei Upward sind die Worte in der heutigen Zeit kursiv gesetzt, weil er sich bewußt ist, daß man ein Werk wie zum Beispiel Hamlet nicht deshalb ablehnen kann,
weil Shakespeare kein Marxist war. Trotzdem wird in seinem interessanten Essay diese Schwierigkeit nur sehr kurz abgetan.
Ein Großteil der Literatur, die uns von früher überliefert ist, ist durchsetzt von Glaubenslehren (dem Glauben etwa an die
Unsterblichkeit der Seele), die uns heute als falsch und in manchen Fällen als verachtungswürdig dumm erscheinen. Und
trotzdem ist es »gute« Literatur, wenn Fortbestand ein Beweis dafür ist. Upward würde zweifellos antworten, daß ein Glaube, der vor Jahrhunderten zeitgemäß war, heute unzeitgemäß und daher verdummend wirken könnte. Aber das bringt einen nicht viel weiter, da es auf der Annahme beruht, daß es zu jeder Zeit jeweils nur einen vorherrschenden Glauben gibt, welcher die zeitgenössische Annäherung an die Wahrheit darstellt, und daß die dann jeweils beste Literatur mehr oder weniger damit
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übereinstimmt. In Wahrheit hat es eine solche Uniformierung nie gegeben. In England bestand im 17. Jahrhundert eine
Spaltung auf religiösem und politischem Gebiet, die dem
heutigen Antagonismus zwischen Rechts und Links auffallend ähnelt. Die meisten modernen Menschen würden rückblickend
den Eindruck haben, daß der frühbürgerlichpuritanische
Standpunkt sich mehr der Wahrheit näherte als der
katholischfeudale. Fest steht, daß nicht alle, und nicht einmal die Mehrheit der besten Schriftsteller jener Zeit, Puritaner waren.
Und darüber hinaus gibt es »gute« Schriftsteller, deren
Weltanschauung in jedem Zeitalter für falsch und dumm
gehalten werden müßte. Edgar Allan Poe ist ein Beispiel dafür.
Poes Einstellung ist bestenfalls wilde Romantik und
schlimmstenfalls nicht weit von Wahnsinn im klinischen Sinne entfernt. Wie kommt es dann, daß Erzählungen wie »Die
schwarze Katze«, »Das verräterische Herz«, »Der Fall des
Hauses Usher« und andere, die durchaus von einem
Wahnsinnigen hätten stammen können, in einem nicht das
Gefühl von Falschheit aufkommen lassen? Weil sie innerhalb eines bestimmten Rahmens wahr sind, sie entsprechen den
Gesetzen ihrer eigenen besonderen Welt, wie ein japanisches Bild. Es stellt sich jedoch heraus, daß man, um eine solche Welt mit Erfolg zu beschreiben, an sie glauben muß. Man erkennt sofort den Unterschied, wenn man Poes Tales mit Julian Greens Minuit vergleicht, einem meiner Auffassung nach unaufrichtigen Versuch, eine ähnliche Atmosphäre zu schaffen. Was einem
sofort bei Minuit auffällt, ist das Fehlen jeder Begründung für die darin geschilderten Vorgänge. Alles ist völlig willkürlich, ohne jede Logik des Gefühls. Und gerade das fühlt man bei Poes Erzählungen nicht. Ihre irre Folgerichtigkeit innerhalb ihres eigenen Aufbaus ist absolut überzeugend. Wenn zum Beispiel der Trunkenbold die schwarze Katze ergreift und ihr mit einem Taschenmesser die Augen aussticht, dann weiß man genau,
warum er es tut, ja, es geht soweit, daß man fühlt, man würde
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das gleiche unter den gleichen Umständen getan haben.
Offenbar ist es für einen schöpferischen Schriftsteller weniger wichtig, die »Wahrheit« zu besitzen, als Aufrichtigkeit des Gefühls. Sogar Upward würde nicht so weit gehen, von einem Schriftsteller nichts anderes als eine marxistische Schulung zu verlangen. Er muß auch talentiert sein. Aber Talent ist
offensichtlich eine Frage der Fähigkeit, sich um etwas zu
kümmern und an den eigenen Glauben wirklich zu glauben, mag er nun wahr oder falsch sein.
Der Unterschied zwischen Céline und Evelyn Waugh zum
Beispiel ist der der emotioneilen Intensität. Es ist der
Unterschied zwischen echter Verzweiflung und einer
Verzweiflung, die, wenigstens zum Teil, nur vorgetäuscht ist.
Und damit geht eine andere Betrachtung Hand in Hand, die
vielleicht weniger naheliegt: ob man nicht gelegentlich an einem
»falschen« Glauben ehrlicher festhält als an einem »wahren«.
Wenn man auf die Bücher zurückblickt, die aus persönlicher Erfahrung über den Krieg von 1914-18
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