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Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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sein, aber bestimmt ist es einer, der lesenswert ist und den man vermutlich auch nach der Lektüre nicht so bald vergißt.
    Während ich dies hier niederschreibe, ist ein neuer
    europäischer Krieg ausgebrochen. Er wird sich entweder über mehrere Jahre erstrecken und die westliche Zivilisation in Stücke schlagen, oder er wird ohne Ergebnis enden und den
    nächsten Krieg vorbereiten, der dann die Sache ein für allemal erledigen wird. Aber Krieg ist nur »intensivierter Friede«. Was
    -133-

    offensichtlich vor sich geht, ob Krieg oder nicht Krieg, ist der Zusammenbruch des
    laissez-faire -Kapitalismus und der
    liberalchristlichen Kultur. Noch bis vor kurzem war das ganze Ausmaß dieses Vorgangs nicht vorhersehbar, weil man sich
    allgemein einbildete, der Sozialismus könne die Atmosphäre des Liberalismus beibehalten und sogar erweitern. Heute fängt man an, einzusehen, wie falsch das war. Mit fast tödlicher Sicherheit bewegen wir uns auf ein Zeitalter totalitärer Diktaturen zu, ein Zeitalter, in dem Gedankenfreiheit zunächst eine Todsünde und später ein leerer, abstrakter Begriff sein wird. Das selbständig denkende und handelnde Individuum wird ausgelöscht werden.
    Das bedeutet, daß Literatur, wie wir sie kennen, zumindest auf eine lange Zeit tot sein wird. Die Literatur des Liberalismus nähert sich ihrem Ende, und die Literatur des Totalitarismus ist noch nicht in Erscheinung getreten und kaum vorstellbar.
    Was den Schriftsteller betrifft, so sitzt er auf einem
    schmelzenden Eisberg; er ist ein bloßer Anachronismus, das Überbleibsel aus dem Zeitalter der Bourgeoisie, so sicher zum Aussterben verurteilt wie das Nilpferd. Miller ist für mich schon deshalb außergewöhnlich, weil er das lange vor den meisten seiner Zeitgenossen erkannt und ausgesprochen hat, zu einer Zeit, als viele noch von einer Renaissance der Literatur
    schwafelten. Schon vor Jahren hat Wyndham Lewis gesagt, die Geschichte der englischen Sprache sei im wesentlichen
    abgeschlossen, aber er hat diese Behauptung mit verschiedenen und ziemlich banalen Gründen belegt. Aber von jetzt an ist es die entscheidende Tatsache für jeden schöpferischen
    Schriftsteller, daß unsere Welt bald nicht mehr die Welt eines Schriftstellers sein wird. Das heißt nicht, daß er nichts dazu tun könnte, um der neuen Gesellschaft ins Leben zu verhelfen, er kann nur nicht als Schriftsteller daran teilnehmen, denn als solcher ist er liberal, und die Entwicklung läuft auf eine Zerstörung des Liberalismus hinaus. Es ist daher sehr
    unwahrscheinlich, daß in den noch bleibenden Jahren freier
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    Meinungsäußerung jeder lesenswerte Roman mehr oder weniger der Linie Millers folgen wird - ich meine nicht in bezug auf Technik oder Stoff, sondern weltanschaulich. Es ist eine
    Rückkehr zur Haltung des Unbeteiligtseins, und es wird ein bewußteres Unbeteiligtsein als vorher. Fortschritt und Reaktion haben sich beide als Schwindel herausgestellt. Scheinbar bleibt nichts übrig als Quietismus - der Wirklichkeit ihren Schrecken zu nehmen, indem man sich ihr einfach überläßt. Zieh dich ins Innere des Wals zurück- oder genauer: gib zu, daß du im Innern des Wals bist (denn du bist es natürlich). Überlaß dich dem Weltgeschehen und hör auf, dagegen zu kämpfen oder so zu tun, als könntest du es beeinflussen. Nimm es hin, erdulde es,
    verzeichne es. Das scheint die Formel zu sein, die jeder sensible Schriftsteller sich vermutlich in Zukunft zu eigen machen dürfte.
    Ein Roman, der positiver, »konstruktiver« und trotzdem auch vom Gefühl her echt ist, erscheint gegenwärtig nur sehr schwer vorstellbar.
    Sage ich damit, daß Miller ein »großer Autor«, eine Hoffnung der englischen Prosa ist? Nichts dergleichen. Miller selbst wäre der letzte, etwas derartiges zu beanspruchen oder zu wollen.
    Zweifellos wird er weiterschreiben - jeder, der einmal zu schreiben angefangen hat, wird immer weiterschreiben -, und neben ihm gibt es eine Reihe von Schriftstellern von ungefähr der gleichen Tendenz. Lawrence Durrel, Michael Fraenkel und andere, fast eine ganze »Schule«. Dennoch erscheint er mir im wesentlichen als der Mann nur eines Buches. Ich könnte mir vorstellen, daß er früher oder später in Unverständlichkeit und Scharlatanerie verfällt. Anzeichen für beides sind in seinem letzten Schaffen vorhanden. Sein letztes Buch, Wendekreis des Steinbocks', habe ich nicht gelesen, nicht weil ich es nicht lesen wollte, sondern weil die Polizei und die

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