Im Jahre Ragnarök
überhaupt bewusst wurde, dass er sich erinnert hatte.
Doch als Altona unmerklich in das eigentliche Hamburg überging, traten aus den matten Regenschleiern weitere Kirchtürme hervor. Nacheinander fielen Tubber ihre Namen wieder ein: St. Michaelis, deren kupferbeschlagener Turm sich nahezu unversehrt wie ein riesenhafter grüner Zeigefinger über den Ruinen erhob; St. Nikolai, von der nur ein rußgeschwärzter neugotischer Torso den Krieg überdauert hatte; St. Petri mit dem unbeschädigten, dolchspitzen Turmhelm sowie St. Katharinen und St. Jacobi, beide enthauptet und, zumindest aus der Ferne betrachtet, aller Größe und allen Stolzes entblößt. Je deutlicher sich die Silhouette der Stadt abzeichnete, desto klarer wurden auch Tubbers Erinnerungen an die langen Spaziergänge durch das zerstörte Hamburg, bei denen Ingrid ihm so viel über die verbliebenen Wahrzeichen ihrer Heimatstadt erzählt hatte. Er war überrascht, dass all das tatsächlich die ganze Zeit in einem abgelegenen Winkel seines Gedächtnisses überdauert hatte.
Für einen unendlich kurzen Moment war ihm, als würden die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen.
Unterstützt von einem kleinen Schlepper machte die Boudicea an den St.-Pauli-Landungsbrücken fest. Sie hatte reichlich Platz, denn außer ihr lag dort kein einziges weiteres Schiff. Überhaupt fiel Tubber auf, dass der Hamburger Hafen wie ausgestorben war. An den Anlegern rings umher schaukelten einige heruntergekommene Barkassen und Fischkutter auf dem trüben Wasser, doch nirgendwo regte sich etwas. Wäre da nicht das Wummern des Schiffsdiesels gewesen, das Klatschen der Wellen und das vereinzelte Kreischen von Möwen, dann hätte völlige Stille geherrscht.
Alles wirkte wie eine Kulisse, die man nach dem Ende der Vorstellung abzubauen vergessen hatte, und die nun niemand mehr benötigte.
Die leblose Unwirklichkeit der Szenerie war so unheimlich, dass Tubber ein kalter Schauder über den Rücken glitt. Er wandte seine Gedanken rasch anderen Dingen zu. Inzwischen hatte die Boudicea an ihrem Liegeplatz festgemacht und die Gangway wurde hinabgelassen. Auf dem Anleger warteten ein deutscher Zollbeamter, der eine zusammengestückelte Uniform trug, und ein britischer Unteroffizier, um die Pässe zu kontrollieren. Tubber vergewisserte sich noch einmal, dass seine Papiere sich in der Innentasche des Mantels befanden; dann nahm er den Koffer und stieg die Treppe zum Hauptdeck hinunter, um zusammen mit der kleinen Gruppe der übrigen Passagiere an Land zu gehen.
Zunächst atmete Tubber erleichtert auf, als er nach den endlosen Einreiseformalitäten endlich das Empfangsgebäude verlassen und ins Freie hinaustreten konnte, denn im Innern hing der faulige Geruch abgestandener Feuchtigkeit so beklemmend in der Luft, als hätte die Halle erst kürzlich unter Wasser gestanden. Doch, noch während er die Stufen des Portals hinabstieg, wehte ihm mit der nasskalten Märzluft ein Gestank entgegen, der mindestens ebenso unangenehm war wie der, dem er gerade entronnen war. Er ging von großen Pfützen und notdürftig zusammengekehrten Schlammhaufen aus, die fast den gesamten Platz vor den Landungsbrücken bedeckten.
Tubber wunderte sich zwar, woher all dieser nach Algen, toten Fischen,
Fäkalien und Brackwasser stinkende Dreck kommen mochte, aber viel wichtiger war für ihn die Frage, wie er die ätzende Dunstglocke so schnell wie möglich hinter sich lassen konnte.
Vorsichtig, um nicht mit den Füßen in einer der trübbraunen Pfützen zu versinken, suchte er sich seinen Weg zwischen den Schlickbergen. Sein Ziel war ein einsam am Straßenrand stehendes Auto, das nur an einem schwarz-weiß karierten Band unterhalb der Fenster als Taxi erkennbar war. Ganz wohl war Tubber dabei nicht; daheim in London stellte eine Taxifahrt für ihn einen geradezu obszönen Luxus dar. Zudem machte das Fahrzeug auf ihn keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Es handelte sich um einen verbeulten, von Rost zerfressenen und mit zahllosen Ersatzteilen zusammengeflickten Opel Olympia aus ferner Vorkriegszeit, aus dessen Kofferraum ein klobiger Holzgasgenerator ragte und der einen unförmigen Drahtkorb voller Holzscheite auf dem Dach trug. Dieses Taxi war gewiss kein Gefährt, in das Tubber mit großer Begeisterung einsteigen würde. Aber er mochte auch nicht bei Regen durch halb Hamburg laufen, um zum Sitz des britischen Stadtkommandanten zu gelangen. Überdies hatte ihn die Ausrüstungsabteilung ja für solche
Weitere Kostenlose Bücher