Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
Zwecke mit deutschem Geld versehen, das man nirgendwo sonst auf der Welt loswerden konnte. Warum sollte er mit den ohnehin fast wertlosen Scheinen auch noch knauserig umgehen?
Im Kopf legte er sich schon die Worte zurecht, mit denen er auf Deutsch um eine Quittung mit Datum und Unterschrift bitten würde. Aber er sollte nicht dazu kommen, die mühevoll formulierten Sätze auch anzuwenden. Tubber konnte deutlich erkennen, wie der Taxifahrer ihn bemerkte und dann mit grimmigem Gesichtsausdruck sofort den Wagen startete. Das Auto raste dicht an ihm vorüber, wobei die Räder eine tiefe Pfütze durchpflügten und sich ein Schwall Schmutzwasser über seine Schuhe und Hosenbeine ergoss.
Wutentbrannt brüllte Tubber dem Taxi sämtliche deutschen Schimpfwörter, die ihm in den Sinn kamen, hinterher, bis ihm der Atem ausging und der Wagen im Regen verschwunden war. Dann versuchte er, mit einem Taschentuch wenigstens den gröbsten Dreck abzuwischen. »Daran war doch bestimmt dieser verdammte Militärmantel schuld, dieses miese Scheißding«, fluchte er dabei. »Der Fahrer hat nur den Mantel gesehen und mich für einen amerikanischen Soldaten gehalten ...
jede Wette, dass es so war. Cripes! «
Er wrang das nasse Taschentuch aus, schlug den Mantelkragen hoch und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Sitz des Stadtkommandanten. Der Regen wurde stärker.
* * *
    Abermals sah Tubber zu der großen Uhr, die am Ende des langen Korridors über der verglasten Doppeltür hing. Gerade sprang der Minutenzeiger einen Strich weiter. Es war nun drei Uhr nachmittags, und Tubber wartete bereits seit über zwei sich endlos hinziehenden Stunden darauf, endlich zum Stadtkommandanten Colonel McDowal vorgelassen zu werden. Hinzu kam, dass es in dem ungeheizten Korridor bitterkalt war, sodass seine vom Regen durchnässte Kleidung nur schleichend trocknete und klamm auf der Haut scheuerte. Nicht einmal hinsetzen konnte er sich, weil ein hagerer Mann in einer Art schäbiger blauer Uniform, der völlig in die Lektüre seines zerlesenen Taschenbuches vertieft war, den einzigen Stuhl in Sichtweite okkupiert hatte. Somit blieb Tubber nichts anderes übrig, als geduldig zu stehen, von Zeit zu Zeit zähneknirschend zur Uhr zu blicken und einige Schritte auf und ab zu gehen, wenn die feuchte Kleidung allzu unangenehm zu kratzen begann.
Zwischendurch versuchte er, sich von den nervenaufreibend zäh dahinschleichenden Minuten abzulenken, indem er die große Landkarte an der gegenüberliegenden Wand betrachtete. Die fett gedruckte Überschrift der Kartenlegende am unteren Rand lautete Occupied Germany ; darunter stand erheblich kleiner in drei Sprachen die eigentliche Bezeichnung des dargestellten Gebiets: Federation of German States – Confédération des Etats Allemands – Bund Deutscher Länder . Im Osten verlief die rote Grenzlinie entlang der Oder und markierte zugleich, wie weit die Rote Armee bis zum Februar 1945 vorgestoßen war. Mit dem Ende des Winters hätte die riesige Streitmacht den Fluss überschreiten und zum letzten Schlag gegen das nur achtzig Kilometer entfernte Berlin ausholen sollen; doch Stalins unerwarteter Tod änderte alles. Noch ehe die Dekorationen der gigantomanischen Trauerfeier auf dem Roten Platz abgebaut worden waren und Stalins einbalsamierte Leiche ihren Platz neben Lenin gefunden hatte, wurden die Truppen zurückbeordert; erst teilweise, dann vollständig, um den verfeindeten Kremlprinzen im rasant eskalierenden Kampf um die Macht beizustehen. Die Sowjetunion wurde von einem Strudel aus Bürgerkrieg und Chaos verschlungen, aus dem es kein Entrinnen gab.
Jetzt, siebzehn Jahre später, begann irgendwo jenseits der selbst ständig am Rande der Anarchie balancierenden polnischen Staaten eine entvölkerte Weite, die sich über den Ural und die Taiga Sibiriens bis zum Pazifik erstreckte und in der örtliche Kriegsherren mit ihrem Gefolge die verbliebene Bevölkerung tyrannisierten, sofern sie sich nicht gerade in endlosen Kleinstkriegen gegenseitig umbrachten.
Und alles nur, weil Joseph Stalin sich eine Grippe eingefangen hatte , ging es Tubber durch den Kopf, wobei er die Stirn in tiefe Falten legte. Ein Grippevirus, eine der winzigsten und primitivsten Lebensformen überhaupt, war der Anfang vom Ende der gewaltigen Sowjetunion gewesen. Sollte er das nun erschreckend finden oder als einen besonders zynischen Scherz der Weltgeschichte verstehen? Er war sich nicht sicher und mochte auch nicht länger über diese beunruhigende Frage

Weitere Kostenlose Bücher