Im Land der Feuerblume: Roman
unmittelbar vor ihm stand und ihm flehend ins Gesicht starrte.
»Verzeihung … Verzeihung, dass ich Sie aufhalte. Aber ich bin auf der Suche nach meiner Tochter. Wir haben hier auf die Einschiffung gewartet, doch vor etwa einer Stunde ist sie spurlos verschwunden.«
Cornelius sah sich um. Die Menschenmenge drängte sich zu den Stegen, wo die Beiboote warteten; teilweise vergebens versuchten Matrosen und Hafenarbeiter, sie zu dirigieren. Es war schwer, darin ein einzelnes Gesicht auszumachen.
»Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich habe niemanden gesehen. Vielleicht ist sie schon aufs Schiff gegangen.«
Der Mann wartete nicht, bis er den Satz vollendete, sondern lief schon auf den nächsten zu, um ihn zu befragen.
Cornelius ging weiter. Sein Onkel Zacharias hätte sich wohl gefreut, wenn sein Neffe verloren gegangen wäre, und hätte darin den erwünschten Aufschub der drohenden Reise gesehen.
Der Gedanke an den Pastor erinnerte Cornelius daran, dass er einen Teller Suppe für ihn hatte auftreiben wollen, doch als er sich umblickte, sah er, dass dies ein ganz und gar nutzloses Unterfangen war. Die Diakonissen und die Abgesandten vom Sankt-Raphael-Verein hatten ihre Arbeit in dem Augenblick ruhen lassen, als der Befehl zur Einschiffung ertönte.
Er wollte schon zurück zu seinem Onkel gehen, als er ein längliches Lagerhaus erblickte. Suppe war dort nicht zu erwarten, vielleicht aber wurden hier Essensvorräte gelagert, von denen er etwas stibitzen konnte. Als er das Gebäude betrat, schwappten ihm allerdings keine wohlduftenden Gerüche entgegen, nur der Gestank nach Tran, Fäulnis und einer undefinierbaren Lauge.
Er wich zurück, wollte das Gebäude augenblicklich wieder verlassen, doch in diesem Augenblick hörte er verzweifelte Rufe.
»Hilfe! Man hat uns hier eingesperrt! Kommt uns zu Hilfe!«
Es waren ein Knabe und eine junge Frau, auf die er stieß, als er den verzweifelten Rufen folgte – die in den kleinsten und ohne Zweifel schmutzigsten Raum dieser Lagerhalle gesperrt waren.
Das Mädchen stürzte auf ihn zu, kaum dass sie seiner ansichtig wurde. »Gott sei Dank!«, rief sie aus. »Jemand hat uns gehört.« Hastig, sich fast an den Worten verschluckend, setzte sie hinzu: »Bitte! Können Sie uns befreien? Wir sind gefangen und …«
Seine Augen hatten sich dem schlechten Licht angepasst. Ihr Haar war kastanienbraun, nur einige Strähnen glänzten kupferrot; am Morgen hatte sie es wohl zu einem festen Zopf geflochten, doch der hatte sich längst gelöst, und an den Schläfen kräuselten sich einige Locken. Schweißnass war ihr Gesicht, und über die Stirn verlief eine dunkle Schliere.
»Bitte!«, setzte sie hinzu. »Ich bin Elisa von Graberg.«
Eine Adelige?
Sein Blick glitt ungläubig über ihre Gestalt, aber er wurde nicht recht schlau aus ihr. Sie trug keine Handschuhe, und ihre Hände wirkten so rissig und braun, als wären sie harte Arbeit gewohnt. Zugleich waren sie feingliedrig und lang, und für einen Augenblick stellte er sich vor, wie sie gekonnt über die Tasten eines Klaviers huschten. Ihre hochgeschlossene helle Bluse unter einem weinroten Cape und ihr grauer Rock waren faltig und fleckig; Staub und Spinnweben klebten daran, aber ohne Zweifel war es ein feiner, weicher Stoff, und auch der dünne Spitzenrand am Kragen zeugte von mehr Eleganz als Bauernlumpen. Die Haut ihrer Wangen war weiß und glatt; auf der Nase jedoch saßen einige Sommersprossen.
Flehentlich blickte sie ihn an, während der Knabe an ihrer Seite ungeduldig auf den Boden stampfte.
»Nun lassen Sie uns doch frei!«, rief er. Was dann folgte, war eine wirre Geschichte, die Cornelius nicht recht verstand. Von Diebespack war die Rede, das sie aber nicht wären, von einem Lambert Mielhahn, der vielmehr Elisa fast bestohlen hätte. Ja, er hätte ihr einfach die Kette entrissen, und doch wären nun sie hier, nicht Lambert, obwohl er es so viel mehr verdiente, ein so unfreundlicher, widerwärtiger Zeitgenosse, wie er sei.
Cornelius musterte auch den Jungen flüchtig. Anders als Elisa von Graberg trug er graue Lumpen, die schon so oft geflickt worden waren, dass es ein Wunder war, warum sie ihm nicht vom Leibe rutschten. In seinem kurzgeschorenen Haar hingen die gleichen Spinnweben wie an Elisas Bluse – nur dass es schon vorher vor Dreck gestarrt haben musste. An manchen Stellen war es nicht blond, sondern grau.
»Bitte warten Sie nicht länger! Es geht doch jetzt aufs Schiff!«, nahm nun wieder die junge Frau
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