Im Land der Feuerblume: Roman
dessen Miene völlig gewandelt. Eben noch erzürnt und sichtlich bereit, Poldi erneut am Schlafittchen zu packen, musterte er die Kinderschar nun fassungslos – und verlegen.
»Das gibt’s doch nicht! Die Steiner-Kinder!«, stieß er aus. Poldi allein war ihm wohl fremd gewesen – im Rudel seiner Geschwister zeigte sich aber, dass er dessen Familie kannte.
»Für einen Dieb hat er mich gehalten!«, setzte Poldi empört hinzu.
Wieder tönten die Geschwister wild durcheinander. Der älteste Bruder wandte sich direkt an Lambert Mielhahn, doch Elisa konnte nicht verstehen, was er ihm vorhielt, weil der zweite der Söhne Poldi gerade auf die Schultern schlug und lautstark den Mut lobte, sich mit dem Mielhahn Lambert anzulegen. Eines der Mädchen schrie dazwischen, dass sie nun endlich die Eltern suchen sollten, ein weiteres wollte wortreich die Jüngste beschwichtigen, und diese wiederum brach nun endgültig in verzweifeltes Geheule aus.
Inmitten dieses wüsten Treibens, das – wie Elisa fand – die Unruhe, die im Logierhaus und nun am Hafen herrschte, bei weitem in den Schatten stellte, ertönte plötzlich ein schriller Pfiff. Augenblicklich erstarb das Rufen der Kinder. Nicht zum ersten Mal schienen sie jenen Laut zu hören – und sie wussten ganz genau, was er von ihnen verlangte. Alle fuhren sie gleichzeitig herum, um sich entsprechend ihrer Größe in einer Linie aufzureihen, und standen alsbald nebeneinander wie Orgelpfeifen. Nach den zwei älteren Brüdern war Poldi der dritte, dann folgten die Mädchen. Das Jüngste klammerte sich zwar haltsuchend an die größere Schwester, aber es hatte zumindest zu weinen aufgehört.
»Was geht hier vor?«
Die Stimme der Frau, die den schrillen Pfiff ausgestoßen hatte, war ebenso energisch wie sämtliche ihrer Bewegungen. Christine Steiner, so erfuhr Elisa in diesem Augenblick, war eine Frau, die gerne und viel sprach und selten still sitzen konnte. Mit wogendem Busen kam sie auf ihre Schar zugelaufen, wohingegen die Schritte der beiden Männer, die ihr folgten – ihr Mann und ihr Schwiegervater –, um vieles gemächlicher gerieten. Ihre braunen Augen glänzten zwar warm, bewegten sich aber so flink, dass ihnen wohl kaum je auch nur die kleinste Untat ihrer Kinder entging. Ihre Lippen, eigentlich breit und rund, wurden schmal – so wie die von Poldi, wenn er empört war. Das dunkelblonde Haar, das sie zu einem großen Dutt gebunden hatte, war an manchen Stellen zu Grau verblichen, die Haut des runden Gesichts um die Augen gerunzelt und um das Kinn schlaff. Irgendwann musste sie eine schöne Frau gewesen sein – heute war sie in jedem Fall eine, die genau wusste, was sie wollte, und es insbesondere ihren Kindern einzutrichtern imstande war.
Sie schritt die Reihe entlang wie ein General, der sorgsam darauf achtet, ob jeder Soldat sein Gewehr richtig geschultert und seine Stiefel geputzt hat.
»Also!«, fragte sie noch einmal, während sämtliche Kinder ihrem Blick auswichen und betreten auf ihre Fußspitzen starrten. »Was geht hier vor? Und wo hast du gesteckt, Poldi?«
Mittlerweile waren auch Großvater und Vater näher gekommen, doch keiner von ihnen schaltete sich ein. Es war offensichtlich, wer hier das alleinige Kommando führte.
Lambert scharrte indessen unruhig mit dem Fuß auf der Erde und trat dann nach vorne. »Ich wusste nicht, dass es dein Jüngster ist, Steiner Christine«, sagte er. Es klang nicht so, als täte ihm sein Missverständnis von Herzen leid, eher griesgrämig, weil er zu viel Zeit damit verschwendet hatte. »Hab geglaubt, dein Sohn wär’ ein Dieb. Ist aber auch kein Zustand, dass er sich allein im Hafen rumtreibt.«
Lautlos waren seine Frau und die beiden Kinder hinzugetreten, der schüchterne Knabe und das weißblonde Mädchen. Beide sahen nicht so aus, als würden sie dergleichen auch nur ansatzweise wagen.
»Was mein Sohn treibt, ist deine Sache nicht!«, fuhr Christine ihn schrill an. Ihr Busen wogte wieder, diesmal nicht wegen des schnellen Laufens, sondern vor Empörung. »Was fällt dir ein, ihn für einen Dieb zu halten?«
Zunächst schien es, als würde Lambert sich unter ihrer lauten Stimme ducken, doch dann richtete er sich zur vollen Größe auf. Seine Kiefer rieben aufeinander.
»Würdest du ein Auge auf deine Kinder haben, wie’s einer anständigen Mutter ziemt, dann wäre das alles nicht geschehen«, zischte er.
»Was?«, schrillte Christine. »Soll ich etwa keine anständige Mutter sein? Sechs von
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