Im Land der letzten Dinge (German Edition)
jetzt nicht mehr möglich. Ich rede nicht nur von den Torturen, die sein Körper mitgemacht hatte – von dem vorzeitig ergrauten Haar, den fehlenden Zähnen, dem leichten, aber ständigen Zittern seiner Hände –, ich rede auch von inneren Dingen. Sam war nicht mehr der arrogante junge Mann, mit dem ich in der Bibliothek gewohnt hatte. Seine Erfahrungen hatten ihn verändert, ja fast gedemütigt, und sein ganzes Verhalten war jetzt milder und friedfertiger. Regelmäßig sprach er davon, das Buch neu anzufangen, aber ich konnte sehen, dass er nicht mit dem Herzen dabei war. Das Buch bedeutete für ihn keine Lösung mehr, und nachdem diese Fixierung einmal abhandengekommen war, schien es ihm leichter zu fallen, zu verstehen, was ihm zugestoßen war, was mit uns allen geschah. Seine Kräfte kehrten zurück, und langsam gewöhnten wir uns wieder aneinander, obwohl mir schien, dass wir jetzt eher gleichberechtigt waren als früher. Vielleicht hatte auch ich mich in diesen Monaten verändert, doch glaubte ich wirklich zu spüren, dass Sam mich jetzt mehr brauchte als damals, und dieses Gefühl, gebraucht zu werden, gefiel mir sehr, gefiel mir besser als alles andere auf der Welt.
Anfang Februar begann er zu arbeiten. Zunächst war ich strikt gegen die Aufgabe, die Victoria für ihn vorgesehen hatte. Sie habe sich das sehr gut überlegt, sagte sie, und sei schließlich zu der Überzeugung gekommen, Sam könne den Interessen von Woburn House am besten dienen, wenn er der neue Arzt würde. «Dir mag diese Idee merkwürdig vorkommen», fuhr sie fort, «aber seit dem Tod meines Vaters krebsen wir doch nur so herum. Das Haus hat keinen Zusammenhalt mehr, kein eigentliches Ziel. Wir geben den Leuten für kurze Zeit Essen und Obdach, mehr nicht – eine minimale Unterstützung, die kaum jemandem hilft. In früheren Zeiten kamen die Leute, weil sie in der Nähe meines Vaters sein wollten. Selbst wenn er ihnen als Arzt nicht helfen konnte, so war er doch da, um mit ihnen zu reden und sich ihre Sorgen anzuhören. Das war das Entscheidende. Er half den Menschen einfach durch seine Persönlichkeit. Den Leuten wurde Essen, aber auch Hoffnung gegeben. Wenn wir einen Arzt hier hätten, kämen wir dem Geist, der früher in diesem Hause herrschte, vielleicht wieder ein wenig näher.»
«Aber Sam ist kein Arzt», sagte ich. «Es wäre eine Lüge, und ich verstehe nicht, wie du Leuten helfen kannst, wenn du ihnen als Allererstes eine Lüge auftischst.»
«Dies ist keine Lüge», erwiderte Victoria, «sondern eine Maskerade. Man lügt aus egoistischen Motiven, in diesem Fall aber wollen wir nichts für uns selbst haben. Es geht ja um andere Menschen, es soll ihnen Hoffnung geschenkt werden. Solange sie Sam für einen Arzt halten, werden sie glauben, was er ihnen sagt.»
«Und wenn jemand dahinterkommt? Dann wären wir erledigt. Kein Mensch würde uns noch trauen – nicht einmal wenn wir die Wahrheit sagten.»
«Niemand wird dahinterkommen. Sam wird sich gar nicht verraten können, weil er nicht als Arzt arbeiten wird. Selbst wenn er das wollte, es sind ja keine Medikamente mehr da, die er anwenden könnte. Wir haben bloß noch ein paar Flaschen Aspirin, ein oder zwei Verbandsschachteln, und das wär’s auch schon. Nur weil er sich Dr. Farr nennt, muss er noch lange nicht so handeln wie ein Arzt. Er wird reden, und die Leute werden ihm zuhören. Das ist schon alles. Ein Versuch, den Menschen eine Chance zu geben, zu ihrer eigenen Kraft zurückzufinden.»
«Und wenn Sam es nicht schafft?»
«Dann eben nicht. Aber das erfahren wir erst, wenn er es versucht, oder?»
Zu guter Letzt willigte Sam ein. «Ich selbst wäre wohl nie auf die Idee gekommen», sagte er, «und wenn ich noch hundert Jahre gelebt hätte. Anna findet es zynisch, und ich denke, im Großen und Ganzen hat sie recht. Aber wer weiß, ob die Tatsachen nicht ebenso zynisch sind? Die Leute sterben da draußen, und ganz gleich, ob wir ihnen eine Schale Suppe geben oder ihre Seele retten, sterben werden sie trotzdem. Daran ist wohl nicht zu rütteln. Wenn Victoria meint, ein falscher Arzt, mit dem sie reden können, würde es ihnen leichter machen, wie käme ich dazu zu behaupten, sie hätte unrecht? Ich bezweifle, dass es viel nützen wird, aber viel schaden kann es offenbar auch nicht. Es ist ein Versuch, und ich bin bereit, dabei mitzumachen.»
Ich machte Sam keine Vorwürfe, weil er zugestimmt hatte, aber auf Victoria war ich eine Zeitlang nicht gut zu sprechen. Es hatte
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