Im Land des Eukalyptusbaums Roman
meisten leben auf den Rinderfarmen draußen«, erklärte Phoebe. »Sie kommen nur samstags her, um einzukaufen, im Hotel zu speisen und mit den Nachbarn zu plaudern. Wer würde sich in diesem Kaff schon für immer und ewig niederlassen? Nur die fünf Mädchen, die mir in der Küche helfen.«
Am anderen Morgen stand Nola mit dem ersten Dämmerlicht auf. Merkwürdigerweise war es die Stille, die sie weckte. Im Speisesaal traf sie den Kutscher, Tierman Skelly, der bei seinem Frühstück saß. Beinahe drehte sich ihr der Magen um, als sie seinen Teller sah: überladen mit dicken Scheiben Speck vom Wildschwein, Ziegenfleisch und drei fettigen Spiegeleiern. Nola mochte ihm bei dieser Schlemmerei keine Gesellschaft leisten und nahm ihren Tee mit nach draußen.
Wenig später tauchte Mr. Skelly auf und wischte sich – ausgesprochen unfein – den Mund mit dem Hemdsärmel ab.
»Ist mein Gepäck auch gut verstaut?« erkundigte sich Nola, die besonders um die Seekiste fürchtete, welche ihre unersetzlichen Schulbücher enthielt.
»Klar, Miss Grayson.« An die Launen seiner Passagiere gewöhnt, gab er sich seelenruhig. Zwei Reisetage durch das unwirtliche Landesinnere Australiens, in extremer Hitze, minderten den Wert der materiellen Besitztümer seiner Kunden normalerweise erheblich.
Eine halbe Stunde später waren sie abfahrbereit, und Tierman hielt den Schlag für Nola auf.
»Ich möchte lieber auf dem Kutschbock sitzen«, entschied sich Nola rasch.
»Sind Sie sicher, Miss? Da oben weht ein rauhes Lüftchen.«
»Bitte glauben Sie mir, daß ich keine Mimose bin, Sir. In der engen Kabine ist es bei der Hitze nicht auszuhalten.«
»Wie Sie wünschen, Miss. Aber der Kutschbock ist kein Ohrensessel, wenn wir uns überschlagen oder von den Aborigines attackiert werden ...«
Nola wurde ein wenig blaß. »Wenn Sie mir rechtzeitig Bescheid sagen wollen, springe ich herunter und gehe in Deckung. Aber so oder so, mir passiert schon nichts.«
Der Kutscher lachte schallend: »Ein Quentchen Humor hier draußen kann nie schaden!«
Ohne sich helfen zu lassen, raffte Nola ihren Rock hoch – wobei sie ungeniert den größten Teil ihrer Beine zur Schau stellte – und kletterte behende auf den Kutschbock. Tierman war überzeugt, daß sie es sich nach ein paar Stunden auf der Straße anders überlegen würde. Dann setzte er sich neben sie und nahm die Zügel in die Hände. Ein Peitschenknall und das Gefährt, von sechs Gäulen gezogen, setzte sich Richtung Nordwesten in Bewegung und hinterließ nichts als eine große Staubwolke.
Auf dem Kutschbock hatte Nola die beste Aussicht auf die Landschaft. Aber auf das halsbrecherische Tempo ihrer Fahrt war sie nicht gefaßt gewesen. Der heißeNordwind hatte ihr schon nach anderthalb Kilometern den Hut weggerissen und das aufgebundene Haar gelöst, das nun schrecklich zerzaust war. Die Sonne verbrannte ihre zarte Haut. Doch trotz aller Widrigkeiten mochte Nola nicht an die Alternative denken – im Innern der stickigen Kutsche mit vier nörgelnden Kindern sitzen, deren Mutter in stiller Resignation erschlafft war.
Tierman Skelly war ein wetterharter, rauhbeiniger Kerl, der jedoch viel Humor hatte. Er unterhielt Nola mit ausgedachten haarsträubenden Geschichten und behauptete, Kutscher seien hierzulande für ihre Lügenmärchen berüchtigt. Das glaubte ihm Nola sofort, zumal er ein lebendes Beispiel dafür abgab. Anfangs hatte er gezögert, ein Gespräch mit ihr anzufangen, doch da sie angesichts seiner seltsamen Geschichten nicht mit der Wimper zuckte – schließlich wollte sie ihren kostbaren Platz auf dem Kutschbock nicht verlieren –, erachtete er sie für würdig, seinen besonderem Anekdoten zu lauschen. Zu seinem Entzücken gab sie schließlich selbst ein paar Geschichten zum Besten.
Inmitten der angeregten Unterhaltung flocht Tierman plötzlich ein, daß er Freigänger war – Gefangener auf Abruf, sozusagen. Nola konnte ihre Überraschung nicht verhehlen.
»Mehr als die Hälfte aller australischen Siedler waren zu Gefängnisstrafen verurteilt, früher«, stellte er klar. »Diejenigen, die’s nicht sind, stammen von Häftlingen ab.«
»Wirklich?« Einen Moment lang fragte sie sich, was zum Teufel in sie gefahren war, Zuflucht in einem Land von Verbrechern zu suchen. Dann mußte sie grinsen. Wenn es das Abenteuer war, was sie reizte, dann würdesie es hier bestimmt finden. Eigentlich wollte sie nach Tiermans Vergehen fragen. Doch gerade, als sie sich dagegen entschied,
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