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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Wolfe
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Sekretärin den Brief vollkommen vergessen und ihn mir erst heute Morgen auf den Schreibtisch gelegt. Er ist an Ihre Mutter adressiert, aber ich nehme an, Sie würden ihn trotzdem gerne haben.«
    »Natürlich, Sir. Ganz gewiss, Sir.«
    Er reichte ihr den Brief. »Tut mir leid, dass meine Sekretärin ihn vergessen hatte, aber nach dem Tod Ihrer Mutter ist er sicher nicht mehr so wichtig.«
    »Vielen Dank.« Hannah steckte den Brief in ihre Manteltasche und verließ das Büro.

4
    Obwohl Hannah vor Neugier brannte und den Umschlag am liebsten sofort geöffnet hätte, ließ sie ihn in der Manteltasche stecken. Der Brief war an ihre Mutter adressiert, und sie hielt es für ihre Pflicht, ihn in ihrem Beisein zu lesen. Leopold Stocker …, überlegte sie, als sie die Third Avenue überquerte und über ihr ein Zug der Hochbahn hinwegratterte. Der geheimnisvolle Onkel Leopold war der Bruder ihres Vaters, der schon vor über zwanzig Jahren nach Kanada ausgewandert war und sich seitdem niemals mehr gemeldet hatte.
    In ihrer Familie, auch bei den anderen Verwandten, hatte man nur im Flüsterton über ihn gesprochen. Einige schienen ihn für seinen Mut zu bewundern, an Bord eines Segelschiffes den stürmischen Ozean zu überqueren, andere schienen ihm aus irgendeinem Grund böse zu sein. Warum, hatte sie nie herausbekommen. Weil es mit dem Bauernhof der Familie danach rapide bergab gegangen war, nahm sie an, oder weil man damals schon von Krieg gesprochen hatte und ihn einige für einen Drückeberger hielten. Ihr Vater hatte jedes Mal geflucht, wenn die Sprache auf ihn gekommen war, und ihre Mutter hatte nur den Kopf geschüttelt und war in der Küche verschwunden.
    Bis zu dem kleinen Friedhof an der Second Avenue waren es nur wenige Blocks. Jenseits des East River ging bereits die Sonne unter, und das schmiedeeiserne Tor hob sich wie ein Scherenschnitt gegen den rötlich gefärbten Himmel ab. Vom Fluss wehte frischer Wind herauf. Sie hielt ihren Mantel am Kragen zusammen, musste ein Automobil passieren lassen, bevor sie die breite Straße überqueren konnte, und trat durch das geöffnete Tor.
    Als hätte sie eine andere Welt betreten, war sie sofort von geheimnisvoller Stille umgeben. Die Bäume und das dichte Gebüsch am Zaun hielten den Verkehrslärm ab, nur das Rattern der Hochbahn drang von dem nahen Schienengerüst herüber. Das Grab ihrer Eltern lag hinter der kleinen Kapelle in dem Bereich, der den ärmeren Leuten vorbehalten war, ein unscheinbares Grab mit einem kleinen Stein, für den ihre Mutter ihre ganzen Ersparnisse geopfert hatte. Jetzt stand ihr Name unter dem ihres Mannes, und der einzige Schmuck waren die Wildblumen, die Hannah im Central Park gepflückt und bei ihrem letzten Besuch vor den Grabstein gelegt hatte.
    Im Licht der sinkenden Sonne, das in rötlichen Schleiern über den Gräbern lag, hockte sie sich hin und zog den Brief aus ihrer Manteltasche. »Guten Abend, Mama«, begrüßte sie ihre Mutter. »Ich hoffe, es geht dir gut. Der Pastor sagt, alle Menschen sind vor Gott gleich, und es gibt weder Armut noch Hunger im Himmel. Wenn es so ist, freue ich mich für dich. Du hättest es dir redlich verdient. Du hattest, weiß Gott, genug Ärger in deinem Leben.«
    Sie öffnete den Umschlag, hielt ihren Blick aber weiterhin auf den Grabstein mit dem Namen ihrer Mutter gerichtet. »Du wirst es nicht glauben, Mama, aber in der Nähfabrik lag ein Brief für dich. Er kam kurz nach deinem Tod. Mr Gottfried hat ihn mir vorhin gegeben. Seine Sekretärin hatte ihn verbummelt. Normalerweise nehmen sie Briefe, die an Angestellte adressiert sind, nicht an, aber bei dir haben sie eine Ausnahme gemacht, weil … Nun ja, weil du schon tot bist vielleicht und wegen des Namens auf der Rückseite. Stell dir vor, er ist von Onkel Leopold!«
    Auf dem Grabstein ließ sich ein Vogel nieder. Er tippelte über den brüchigen Stein und schien Hannah nicht zu bemerken.
    »Woher er kommt, weiß ich nicht. Der Stempel ist verwischt. Und bei der Adresse der Nähfabrik fehlt die Straße. Er kannte wohl nur den Namen der Fabrik … Woher, weiß ich auch nicht. Du hast hoffentlich nichts dagegen, dass ich ihn öffne …«
    Sie blickte in den Umschlag und zog den Brief heraus. Als sie ihn auseinanderfaltete, fielen ihr vier Tickets entgegen. Sie steckte die Tickets nach kurzem Zögern in den Umschlag zurück, ohne sie sich anzusehen, und begann mit leiser Stimme zu lesen: »Meine liebe Lisbeth, Du wirst Dich sicher wundern, von mir zu

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