Im Land des weiten Himmels
hören. Sechsundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit, und inzwischen ist so viel passiert, wer weiß, ob Du Dich noch an mich erinnerst. Wie ich von unserem ehemaligen Pastor erfahren habe, dem einzigen Menschen aus der alten Heimat, mit dem ich noch in Kontakt stehe, lebst Du inzwischen in New York. Von ihm weiß ich auch, dass Du in der Nähfabrik arbeitest, an die ich diesen Brief schicke. Deine Adresse wusste er nicht, oder er wollte sie mir nicht verraten. Ich hoffe, mein Brief erreicht Dich trotzdem. Bitte wirf ihn nicht ungelesen weg.«
Hannah hielt für einen Moment inne und betrachtete den Vogel, der keinerlei Scheu zeigte und ihr aufmerksam zuzuhören schien. Mit ernstem Gesicht fuhr sie fort: »Meine liebe Lisbeth, Du weißt, warum ich damals den heimatlichen Bauernhof im Stich gelassen habe und nach Kanada ausgewandert bin. Ich hätte es nicht ertragen, Dich und meinen Bruder vor dem Altar stehen zu sehen, und noch weniger, mit Dir unter einem Dach zu wohnen oder auch nur in Deiner Nähe. Meine Liebe zu Dir war unendlich. In meinem Leben verging kein Tag, an dem ich nicht an Dich gedacht hätte. Nie werde ich jene kostbaren Minuten in der Scheune vergessen, als Du für einen Augenblick in meinen Armen lagst und ich Deine Lippen berühren durfte. Von diesem Kuss zehre ich bis heute. Ich habe Dich immer geliebt, Lisbeth, und mich nur deshalb nie gemeldet, weil ich keine alten Wunden aufbrechen wollte, keine Unruhe in Eure Ehe bringen wollte. Ich habe meinen Bruder nie gemocht, das weißt Du, und ich wusste schon damals, dass er Dich niemals auf Händen tragen würde, aber ich respektiere den heiligen Bund der Ehe und wollte mein Leben so führen, wie es unserem Herrgott gefällt. Auch deshalb bin ich in Kontakt mit unserem Pastor geblieben. Wem sollte ich mich sonst anvertrauen? Meinen Eltern? Sie hätten mich niemals verstanden.«
Hannah ließ die Hand mit dem Brief sinken und starrte auf den Vogel, der seine Flügel angelegt hatte und scheinbar reglos auf dem Grabstein verharrte. Als wäre er bei ihren Worten zu Stein erstarrt. »Das wusste ich nicht«, sagte sie leise, »deswegen warst du also immer so nachdenklich, wenn die Sprache auf ihn kam. Du hast ihn auch geliebt, nicht wahr? Du hast Onkel Leopold geliebt und Vater nur geheiratet, weil es deine Eltern so wollten. Du hast diese Liebe immer unterdrückt, meinetwegen und weil es sich nicht schickt, einen anderen Mann zu begehren. Warum hast du mir denn nie etwas gesagt?«
Der Vogel drehte sich von ihr weg und pickte nach irgendetwas, das auf dem Grabstein lag. Der frische Wind bauschte sein Gefieder auf. Das Licht der untergehenden Sonne verlieh seinen Federn einen eigenartigen Glanz.
Hannah versuchte, die überraschenden Neuigkeiten zu verdauen, und las weiter, etwas langsamer, als hätte sie Angst, es könnte noch mehr auf sie einstürzen. »Ich habe viel erlebt während der letzten Jahre, Lisbeth. Zu viel, wenn ich’s mir recht überlege. Zu viel sowieso für einen Brief: Die Jahre im Okanagan Valley, wo ich als Erntehelfer anfing, die harte Arbeit bei den Holzfällern im Chilcotin Valley, der Versuch, ein reicher Mann zu werden in den Goldgräbercamps von Dawson City. Lass mich lieber zum eigentlichen Grund meines Schreibens kommen. Ich weiß, dass es Dir nicht gutgeht. Dass es Dir nie gutgegangen ist. Unser Bauernhof brachte nie viel ein, und vom Pastor weiß ich, dass sich das während meiner Abwesenheit noch verschlimmert hat, besonders während dieses furchtbaren Krieges. Mein Bruder war dieser Herausforderung niemals gewachsen, um das herauszufinden, hätte ich die Briefe des Pastors nicht lesen müssen. Als er mir vom Tod meines Bruders schrieb, konnte ich mir vorstellen, welche Anstrengung es Dich kosten würde, Deinen Lebensunterhalt in einer Nähfabrik zu verdienen und davon auch noch die Schulden für die Auswanderergesellschaft zu bezahlen. Was diese Leute für Ausbeuter und Betrüger sind, steht inzwischen in allen Zeitungen. Der Gedanke, wie schlecht es Dir und Deiner Tochter gehen muss, bereitet mir große Schmerzen, und ich bedauere längst, mich nicht früher gemeldet zu haben. Aber wie pietätlos hätte es ausgesehen, wenn ich mich nur ein paar Monate nach dem Tod meines Bruders bei Dir gemeldet hätte?
Ich bin am Ende, Lisbeth. Ich leide an einer seltenen Krankheit, deren Namen ich nicht aussprechen kann, und werde wohl bald sterben. Ein paar Wochen, Monate, Jahre … Nicht einmal die Ärzte wissen, wie viel Zeit mir noch
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