Im Land des weiten Himmels
als es der Westen jemals war. Dort gibt es Bären und Wölfe, und die Winter sind eisig kalt. Doch ich habe keine Angst. New York ist ein Gefängnis mit hohen Mauern, hier würde ich irgendwann ersticken. Im hohen Norden warten die Freiheit und das Abenteuer.«
Hannah stopfte den Brief in die Innentasche ihres Mantels und machte sich auf den Weg zu Henry’s Café. In ihre Freude, New York endlich verlassen zu können, mischte sich nach der ersten Euphorie auch die Sorge, ihre Schulden könnten sie zwingen, noch länger in der Stadt zu bleiben. Ihrer Entschlossenheit tat das keinen Abbruch. Die Nähfabrik würde den fälligen Betrag von dem Monatslohn abziehen, den man ihr noch schuldete, und für Behringer würde sie sich etwas einfallen lassen müssen.
Über die 86 th Street blies ein kräftiger Wind. Sie senkte den Kopf und hielt ihren Mantel am Kragen zusammen, bemerkte das zersplitterte Fenster von Henry’s Café erst, als sie nur noch wenige Schritte davon entfernt war. Sie blieb entsetzt stehen, ging dann langsam weiter und sah Henry mit sorgenvollem Gesicht aus dem Lokal kommen. »Was ist denn hier passiert?«
»Lieberman!«, sagte Henry so leise, dass es die neugierigen Passanten, die vor dem Lokal stehen blieben, nicht hören konnten. »Männer wie er können es nicht ertragen, wenn man nicht nach ihrer Pfeife tanzt. Vielleicht hättest du doch …«
»Niemals!«, schnitt sie ihm das Wort ab. Einige Passanten drehten sich nach ihr um. »Für kein Geld der Welt würde ich mich mit einem schmierigen Kerl wie ihm einlassen, und wenn er noch so viel Macht und Geld hätte. Eher kündige ich.«
Henry blickte auf die Scherben, die den Gehsteig bis zur Straße bedeckten. »Das wirst du auch müssen. Oder meinst du, ich kann weitermachen wie bisher? Ron Lieberman hat mehr Macht, als du dir vorstellen kannst, der bringt es fertig und drängt mich ganz aus dem Geschäft, wenn ich dich weiterbeschäftige.«
Hannah wollte es nicht glauben. »Und das alles nur, weil ich mich geweigert habe, mich von ihm anfassen zu lassen? Deswegen wirft er Ihnen das Schaufenster ein?«
»Nicht er, ein paar Halbwüchsige, die ich leider nicht erwischt habe. Aber ich bin sicher, dass er dahintersteckt. Du hast ihn vor allen Gästen lächerlich gemacht, Hannah. Etwas Schlimmeres gibt es nicht für einen Mann wie ihn.«
»Das Fenster zahlt die Versicherung.«
»Das glaube ich kaum. Dafür wird Lieberman schon sorgen.« In Henrys Augen spiegelten sich Enttäuschung und Resignation. »Es tut mir leid, dass ich dir kündigen muss. Du warst eine gute Kraft und hast es nicht verdient. Aber ich muss auch an mich denken. Bevor ich mich gegen eine der großen Brauereien stelle, kann ich mich auch gleich aufhängen.«
»Das ist nicht so schlimm.« Sie hatte das Gefühl, ihren Boss, so ruppig er sein konnte, trösten zu müssen. »Ich wäre heute sowieso das letzte Mal gekommen.« Sie erzählte ihm in zwei Sätzen von ihren Plänen und deutete zur Tür. »Sie schulden mir noch den Lohn für die letzte Woche.«
Er hatte die Forderung wohl erwartet. »Den muss ich dir leider schuldig bleiben, Hannah. Der Verdienstausfall durch die zerbrochene Scheibe ist zu groß, und du weißt ja selbst, dass wir letzten Monat eine längere Flaute hatten.«
»Aber ich brauche das Geld!«
»In vier Wochen kann ich es dir geben. Tut mir leid, Hannah.«
»Geben Sie mir wenigstens einen Teil!«
Er schüttelte den Kopf. »Geht leider nicht, Hannah. Ich kann froh sein, wenn ich selbst über die Runden komme. Ich gebe dir das Geld, sobald ich es habe, einverstanden?«
Sie kehrte enttäuscht nach Hause zurück. Halb so schlimm, tröstete sie sich, ihr Lohn als Bedienung war ohnehin nicht besonders hoch, aber ihre Begeisterung hatte doch sehr gelitten, und sie konnte sich kaum mehr über die Tickets freuen, als sie ihre Freundin auf dem Dach traf.
»Ärger?«, fragte Carla nur.
»Ich fahre nach Alaska.« Sie erzählte von dem Brief und den Tickets, die ihr Onkel geschickt hatte.
»Wie bitte?« Carla konnte es nicht fassen. »Und da machst du so ein Gesicht? Ich dachte schon, es wäre was passiert.«
»Henry.« Hannah erzählte von dem eingeschlagenen Fenster. »Er hat kein Geld und will mir meinen restlichen Lohn erst in vier Wochen geben. So lange will ich nicht warten, Carla.«
»Dann fahr doch einfach! Lass Behringer einen Brief da und versprich ihm, die Raten pünktlich zu schicken, dann kann er dir nichts anhaben.« Sie lächelte Hannah aufmunternd
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