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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Wolfe
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bleibt. Ich weiß, es klingt egoistisch, und dennoch wage ich es, Dir diese Zeilen zu senden: Ich vermisse Dich, Lisbeth! Nach all diesen Jahren ist mein Herz noch immer voller Liebe zu Dir, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als Dich noch einmal in die Arme zu schließen. Verzeih mir meine Kühnheit! Ich würde diesen Wunsch niemals zu Papier bringen, wenn Du noch verheiratet wärst oder glücklich und zufrieden in New York leben würdest. Aber wir beide wissen, dass Du in New York keine Zukunft haben kannst. Deine Tochter ist jung und stark, sie geht längst ihren eigenen Weg und wird ihr Glück in New York machen. Du hast es verdient, den Rest Deines Lebens in Ruhe und Frieden und ohne lästige Alltagssorgen zu verbringen. Ich lebe inzwischen in Alaska, ungefähr sechzig Meilen nördlich von Fairbanks. Auf die Rückseite dieses Briefes habe ich eine Karte gezeichnet, die Dir zeigt, wie Du meine Hütte erreichst.« Hannah drehte den Brief um und betrachtete die Skizze, die ihr aber wenig sagte. »Ich weiß, es klingt verrückt. Welche New Yorkerin wäre schon bereit, die größte Stadt der Welt gegen die Wildnis Alaskas einzutauschen? Aber Du bist keine New Yorkerin und wirst diese Wildnis lieben. Dein Schaden soll es nicht sein. Ich besitze eine kleine Goldmine, die genug Geld für uns beide abwirft. In meinem Testament habe ich sie Dir bereits vermacht. Ich bitte Dich nicht, mich zu heiraten, Lisbeth. Ich hielte es für unanständig, Dir eine Ehe mit einem kranken Mann anzutragen. Aber ich würde mich freuen, wenn Du kommen würdest. Diesem Brief liegen vier Tickets bei. Ein Bekannter hat sie mir vor einigen Wochen aus Seattle mitgebracht. Zwei Tickets für die Zugfahrt von New York nach San Francisco, das dritte für die Schiffspassage nach Alaska und das vierte für die Zugfahrt nach Fairbanks. Dort schließt Du Dich am besten dem Postreiter an, er bringt Dich zu meiner Hütte. Sage ihm, dass er sein Geld bekommt, sobald er Dich wohlbehalten abliefert. Überlege nicht zu lange! Komm zu mir, Lisbeth! Ich warte auf Dich! In ewiger Liebe, Dein Leopold.«
    Hannah faltete den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. Vor ihr erhob sich flatternd der Vogel und flog über die Kapelle nach Norden davon. Sein schwarzes Gefieder verschmolz mit dem dunklen Himmel. Die Sonne war untergegangen, und nur noch am westlichen Horizont war ein rötlicher Schimmer zu sehen. Die Nacht legte sich über New York.
    »Alaska«, flüsterte sie beinahe andächtig. Sie betrachtete die Tickets wie die Glückslose einer Lotterie und strich mit dem rechten Zeigefinger über das magische Wort: Alaska. Das Territorium im fernen Norden, eine großartige Wildnis mit überwältigender Natur, schneebedeckten Bergen, ausgedehnten Wäldern, reißenden Flüssen und magischen Seen. Ein geheimnisvolles Land voller Abenteuer und Verlockungen. Ein Mekka für mutige Menschen, die abseits der Zivilisation nach einer neuen Zukunft suchten. Ein wildes Land.
    Sie blickte auf den Namen ihrer Mutter, der in der hereinbrechenden Dunkelheit kaum noch zu erkennen war. »Was hättest du getan, Mama? Wie hättest du dich entschieden? Wärst du zu ihm gefahren? Hättest du sein Angebot angenommen?« Sie dachte eine Weile nach und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Du wärst in New York geblieben, auch dann, wenn du ihn wirklich noch geliebt und auf eine zweite Chance gehofft hättest. Schon meinetwegen hättest du die Stadt nicht verlassen. Weil du nicht gewollt hättest, dass ich auf den Schulden sitzenbleibe. Weil du es als deine Pflicht angesehen hättest, die Familie zusammenzuhalten. Selbst wenn ich dich gebeten hätte, diese Chance beim Schopf zu packen, wärst du hiergeblieben, nicht wahr?«
    Sekundenlang war nur der frische Abendwind zu hören, wie er leise über die Gräber strich und sich in den Bäumen und Büschen verfing. Dann huschte ein hoffnungsvolles Lächeln über Hannahs Gesicht, und sie sagte: »Aber ich bin allein, Mama. Vater und du, ihr seid beide im Himmel, und es gibt keinen Menschen in dieser Stadt, der mich halten könnte. Ich werde fahren, Mama! Diese Tickets sind das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe, und ich werde Gott und Onkel Leopold und dir jeden Tag dafür danken. Ich werde fahren! Ich werde mir den größten Wunsch meines Lebens erfüllen und diese Stadt gegen die urwüchsige Natur im hohen Norden eintauschen. Ich weiß, worauf ich mich einlasse, Mama. Alaska ist wahrscheinlich noch wilder,

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