Im Namen Ihrer Majestät
lernen, obwohl sich im Grunde jeder für das Schießen eigne. Wer am meisten trainiere, werde auch am besten.
Carl nahm zwei Pistolen aus dem Schrank, eine kleinkalibrige französische Wettkampfpistole, die er nur zu Übungszwecken brauchte, und seine großkalibrige Beretta. Er kontrollierte, daß die Waffen ungeladen waren. Er gab sie dem Jungen, der sie befühlte und einige Male blind abfeuerte. Dann lud Carl die kleinkalibrige Pistole und schoß eine langsame Serie auf das größte Ziel, wobei er beschrieb, was er tat.
Sie gingen hinunter und betrachteten das Ergebnis. »Du kannst dich begraben lassen, Mel Gibson!« sagte Stan beeindruckt. Dann klebten sie die Einschußlöcher an der Schießscheibe zu.
Carl lud die kleinkalibrige Pistole erneut mit fünf Schuß und ging mit dem Jungen den Gang entlang, bis sie sieben oder acht Meter von der Schießscheibe entfernt waren. Er stellte sich hinter seinen Schüler, drückte ihm die Waffe in die Hand, korrigierte die Schußposition und erteilte dann einen kurzen militärischen Befehl:
»Fünf Schuß auf das rechte Ziel. Feuer!«
Die Schüsse der Serie erfolgten zu schnell und waren weit gestreut. Carl ging mit dem Jungen zur Schießscheibe und wies auf die Treffer. Er erklärte, weshalb sie zu niedrig gelandet seien, weshalb beispielsweise tief links sieben Uhr ein schnelles und ruckhartes Abdrücken bedeute.
Sie wiederholten den Versuch mit einem etwas besseren Ergebnis. Nach mehreren weiteren Versuchen einigten sie sich darauf, daß Stan mit der »richtigen« Pistole schießen dürfe, wenn es ihm gelinge, alle fünf Schuß ins Ziel zu bringen.
Carl hatte geglaubt, damit eine risikofreie Zusage zu geben. Doch der Junge gab sich ganz besondere Mühe. Beim zehnten Versuch brachte er alle fünf Schuß in dem Kreis unter, der zu treffen war.
Das Spiel hatte eine unangenehme Wendung genommen. Carl konnte sich nicht recht erklären, weshalb er es so empfand. Aber versprochen ist versprochen, und so lud er seine Beretta, beschrieb kurz ihren Rückstoß und schoß eine schnelle Serie, um zu zeigen, wie man es machte. Bei dieser kurzen Entfernung konnte er der Versuchung nicht widerstehen, ein grinsendes Gesicht zu schießen. Sie verklebten die Schießscheibe, und Carl lud erneut. Er stellte sich hinter den Jungen, bevor er ihm die Waffe reichte. Es folgten die letzten Ermahnungen, Stan solle langsam schießen und weich abdrücken. Wie erwartet machte der erste Rückstoß dem Jungen angst. Carl beruhigte ihn und zeigte, wie Stan die Waffe mit beiden Händen greifen könne, wie er sich etwas breitbeiniger hinstellen und den Lauf direkt aufs Ziel richten solle. Der Junge erklärte, in Kinofilmen schössen sie auch immer mit beiden Händen.
In dieser Stellung fand sie die Mutter des Jungen. Sie hatte gedämpfte Geräusche aus dem Keller gehört und Unheil gewittert. Und jetzt sah sie ihren Sohn mit einer der schauerlichen Mordwaffen Carls in den Händen. Sie schrie auf, doch die beiden hörten sie nicht. Dann dröhnte ein Schuß und noch einer. Carl gab dem Jungen freundliche Anweisungen und schien ihm noch einmal den richtigen Griff zu zeigen, bevor erneut geschossen wurde.
Als sie fertig waren und zu den Schießscheiben gingen, entdeckte Carl Tessie hinten an der Tür. Er erkannte an ihren Augen und ihrer Körperhaltung sofort, was sie dachte und empfand.
»Okay, mein Junge, ich glaube, für heute ist es genug«, seufzte er und nickte Tessie über die Schulter hinweg zu.
Stan lief ihr entgegen. Seine Wangen glühten vor Eifer.
»Mami, Mami, ich habe auch mit der richtigen Pistole getroffen. Außerdem haben wir fünf große Barsche geangelt, die wir nachher essen«, zwitscherte er.
Tessie umarmte ihn und blickte über die Schultern ihres Sohnes hinweg dunkel auf Carl.
»Mm, Liebling, wir sollten vielleicht anfangen, ans Essen zu denken«, sagte sie tonlos, nahm ihren Sohn bei der Hand und führte ihn hinaus, während er wieder lossprudelte und von seinem überwältigenden Erlebnis zu erzählen begann.
Carl blieb mit seiner Beretta in der Hand allein zurück. Er verstand sehr wohl, was Tessie fühlte, er verstand es nur zu gut. Vielleicht sollte er sich schämen, vielleicht sollte er sie um Entschuldigung bitten und versprechen, so etwas nie mehr zu tun, und so weiter. Doch andererseits hatte sie ihm einen klaren Auftrag gegeben: mit im großen und ganzen allen zu Gebote stehenden Mitteln Feindseligkeit und Mißtrauen ihres Sohnes zu brechen.
Auftrag
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