Im Netz der Meister (German Edition)
hohen Stimme? Rolf? Ralf? Ja, Ralf. Der kleine Möchtegern-Dom, der ihr mal ordentlich den Arsch versohlen wollte. Wie lange war das her? Zwei Jahre? Erst?
Was bedeutete es eigentlich, was bedeutete es wirklich, ihr selbst verordnetes »nie mehr«?
Nie mehr?
Immerfort tobte dieses schreckliche, selbst erteilte Gebot »nie mehr« in ihr, nahm ihr die Kraft für den Tag und die Luft zum Atmen. Simone wälzte sich nachts hin und her, schlaflos, wirr träumend, und manchmal so erregt aufwachend, dass sie die Schenkel fest zusammenpresste und die Lippen auch, um nicht zu schreien.
Einmal, ein einziges Mal wollte sie es noch wissen. Es würde ihr letzter Seitensprung sein, dieser siebte, der allerletzte, bevor das »Nie mehr« Wahrheit werden würde. Sie versprach es sich.
Sie loggte sich am nächsten Tag bei Love.Letters ein und registrierte sich als Chatterley. Ohne Lady.
Sie fühlte sich heimisch. Das Layout der Seiten von Love.Letters, die plakativen Farben, die Aufteilung der Angebote, der Aufbau von Chat, Gästebüchern und Nachrichtenlisten waren ihr so vertraut, dass sie das Gefühl hatte, sie sei nach Hause gekommen. Es war jedoch faszinierend, dieses vertraute Haus in einem neuen Kleid, mit einem Namen, den keiner kannte und der ihr somit in der Chattergemeinde die Anonymität einer neuen Identität gab, zu betreten. Karin, Arno, Annika, niemand kannte diesen neuen Nick, und keiner von ihnen sollte davon wissen.
Sehr sorgfältig formulierte Simone ihren Text, in dem sie sich vorstellte und darstellte. Sie suchte lange nach passenden Zeilen, die diskret beschrieben, was sie meinte und wollte.
Sie entschied sich für Francesco Petrarca: »Es ist ein großer Unterschied, ob ich etwas weiß oder ob ich es liebe oder ob ich es verstehe oder ob ich nach ihm strebe.« Und sie fügte einen Satz hinzu, der ihm ebenfalls zugeschrieben wird: »Es ist aber ein Naturgesetz, dass das Herz nicht ruht, bis es am Ziel seiner Wünsche angelangt ist.«
Sie veröffentlichte Alter, Größe, Maße, Haar- und Augenfarbe wie einen Code: 42/175/60/89/65/90/ schwarz/blau.
Das alte Jagdfieber ergriff sie wieder, die vertraute Spannung, das Wissen, etwas Verbotenes, Verwerfliches zu tun, ein Geheimnis zu haben. Und zugleich kam die Angst vor dem Risiko, den Konsequenzen, die Angst vor der Entdeckung und vor sich selbst. Einmal, nur noch einmal, ein einziges Date. Und dann nie mehr .
Sie bemühte sich, es nicht zu übertreiben, nicht wieder Stunde um Stunde im Chat zu verbringen und dadurch den neu gewonnen Alltag wieder zu verlieren.
Nein, diesmal musste alles im Rahmen bleiben, es war das letzte Mal, und sie wollte das Schicksal nicht herausfordern.
Bisher war es gut gegangen: Gerald hatte sie nicht erwischt, es hatte kein Drama, keine Konsequenzen gegeben, und die wollte sie auch jetzt nicht. Sie surfte nur gegen Mittag, wenn im Laden nichts los war, und hielt sich exakt daran, sich nach einer Stunde wieder auszuloggen.
Einerseits hatte sie Angst, sich selbst wieder im World Wide Web zu verlieren, wieder in die Online-Sucht abzurutschen, der sie fraglos lange verfallen gewesen war. Andererseits war die Sehnsucht nach einer Session so groß, dass sie dachte, sie würde den Verstand verlieren, wenn sie nicht bald einen Dom fände. Es sollte ein besonderer sein, einer, der ihr gewachsen war, einer, dem sie nicht gewachsen war, einer, der sie führen, verführen, leiten, faszinieren und befriedigen konnte.
Um leichter Kontakte zu knüpfen und Gleichgesinnte zu finden, meldete sie sich in einigen Diskussionsgruppen mit dem Schwerpunktthema SM an. Damals war sie in Arnos Gruppe schnell ins Gespräch gekommen. Sie überlegte einen Moment, ob sie es wagen könnte, sich in »Liebesleben« anzumelden, deren Moderatoren Arno und Karin als Milord und Mylady waren. Es war die größte SM-Gruppe mit den meisten Mitgliedern und bot eine realistische Chance, schnell an das Ziel ihrer Wünsche zu kommen. Ein wenig gefährlich schien das schon, denn die beiden wiesen in ihrer öffentlich lesbaren Gruppenvorstellung darauf hin, dass sie die Mitglieder vor der Aufnahme prüften, um den Jugendschutz zu gewährleisten.
Sie würde es versuchen. Klar. Warum nicht? Sie hatte kein Bild im Profil und als Wohnort nicht Bonn, sondern Köln angegeben, wie sollte sie von Arno oder Karin erkannt werden? Simone schrieb an den Gruppenadministrator und bat förmlich um Aufnahme. Am nächsten Tag schon war sie kommentarlos als Mitglied aufgenommen worden.
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