Im Netz der Meister (German Edition)
Locken, die ihr großer Kummer waren, und ließ sie recht elegant aussehen.
»Lass mich mal lesen!«, sagte Simone. Karin kicherte und rückte ein wenig zur Seite. Simone las laut vor.
»Langbeinige Blondine, 36 – Karin, das ist aber geschwindelt!«
»Na und?«, sagte Karin und grinste spitzbübisch.
Simone fuhr fort: »Ja, ich weiß, woher ich stamme:
Ungesättigt gleich der Flamme,
glühe und verzehr ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle, alles, was ich lasse
Flamme bin ich – sicherlich. Oh, du hast Nietzsche zitiert, warum?«
»Weil ich ihn enorm schätze und weil es très bien ist, einen Philosophen zu zitieren, ma chérie.«
Simone kannte Karins Faible für kluge Sprüche. Ebenso wie ihre gestelzte Ausdrucksweise war ihre Zitierwut schon oft Anlass für Gelächter gewesen. Karin hatte sich davon nie beirren lassen: »Mein linguistischer Code ist mein individuelles Markenzeichen und meine Hinneigung zur Lyrik ebenso«, hatte sie selbstbewusst erklärt.
Karin wandte sich wieder dem Bildschirm zu, loggte sich aus, klickte auf »Verlauf« und dann auf eine Zeile – und es erschien Simones Flirtprofil.
»Wow! Wie machst du das? Eigentlich sieht man doch die Besucher rechts in der Liste? Du bist auf meiner Seite und man sieht dich nicht?«
Simone zog sich einen zweiten Stuhl heran und setzte sich neben Karin.
»Das, meine Liebe, nennt man blind surfen. Ich bin schon lange bei Love.Letters, Frau lernt naturellement diverse Finessen.«
»Und wozu sind die gut, diese Finessen?«
Karin grinste. »Wenn du einen Flirt hast, kannst du beobachten, mit welchen Damen dieser Herr außerdem flirtet. Niemand sieht, dass du ein kleines bisschen neugierig bist, und du weißt einfach Bescheid. Solches Wissen schadet nienicht, chérie.«
Neugierig sah Simone auf den Bildschirm. Karels Nickname leuchtete grün in ihrer Besucherliste. Karin zeigte mit dem Finger darauf.
»Dieser Herr zum Beispiel, ich kenne ihn, meine Liebe. Er ist ein sehr großzügiger Grandseigneur.«
Simone war sprachlos. Karin blieb bis zum Feierabend im Geschäft. Es war ein ruhiger Nachmittag, und es kamen kaum Kunden, sodass die beiden Frauen sich über ihre neu entdeckte Gemeinsamkeit austauschen konnten. Sie surften gemeinsam über die Love.Letters-Seiten, lachten über platte »Entrees«, wie Karin die Selbstdarstellungen nannte, sie stießen anerkennende Pfiffe aus und begannen zu kichern wie die Teenager, wenn ihnen ein Foto eines Mannes gefiel.
Simone war glücklich, jemanden zum Reden zu haben, dennoch war sie vorsichtig. Sie erzählte Karin nichts von Boris und versuchte ihr glaubhaft zu machen, dass sie nur an virtuellen Flirts interessiert sei.
Obwohl sie sich schon eine Weile kannten, war ihr Verhältnis nie mehr als eine freundschaftliche Zusammenarbeit gewesen. Karins seltsame Art zu reden, ihr exaltiertes Gehabe waren nicht Simones Geschmack, ebenso wenig wie ihr provozierender Kleidungsstil. Sie wusste eigentlich nicht viel über ihre Mitarbeiterin, wenn man von den Familienverhältnissen, die Simone als sehr chaotisch empfand, einmal absah.
In ihrer ersten Ehe hatte Karin »Freifrau von den Bänken« geheißen – ein Titel, den sie bei der zweiten Heirat nur äußerst ungern wieder abgegeben hatte.
»Indes, es ist ja so, adlig sind die Menschen nicht des Titels wegen, nicht wahr?«, hatte sie einmal, sich beinahe selbst durch diese Worte tröstend, kommentiert.
Karin hatte die Schule kurz vor dem Abitur abgebrochen, als sie mit dem ersten Kind schwanger war. Es war während der Klassenfahrt nach Arnsberg im Sauerland passiert, nach einem romantischen geselligen Abend mit Gitarrenmusik am Lagerfeuer. Das Kind war im Etagenbett der Jugendherberge gezeugt worden, ein kurzer, schmerzloser Akt mit langen, schmerzhaften Folgen. Karins Eltern waren entsetzt, dass dieser Halbstarke ihr anständiges Mädchen verführt hatte. Schließlich hatten sie in ihrer kleinen Bäckerei in Brühl Tag und Nacht geschuftet, um dem einzigen Kind eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Karin war in den Augen ihrer Eltern etwas ganz Besonderes und zu Höherem berufen.
Die Leute redeten und tuschelten, als Karins Bauch immer dicker wurde, und Karins Mutter begann, ab und zu ein Schnäpschen zu trinken, damit ihr das Gerede der Leute nicht mehr so zusetzte. Volker, so hieß der Halbstarke, der das anständige Töchterchen geschwängert hatte, war der Schwarm aller Mädchen in der elften Klasse, und Karin war nicht die Erste, die
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