Im Paradies deiner Kuesse
würde.
Spätestens mit zwanzig würde sie sich einen anderen Job suchen müssen, hatte man ihr vorausgesagt. Mittlerweile war sie dreiundzwanzig und fürchtete mit jedem Tag mehr, ihre Kritiker könnten am Ende recht behalten. Aus diesem Grund kostete es sie jeden Tag mehr Überwindung, die Ballettschuhe überzustreifen. Irgendwann würde ihre Karriere vorbei sein.
Aber nicht heute Abend! Auf keinen Fall heute Abend! Ihr Vater würde so enttäuscht sein.
Um sich auf andere Gedanken zu bringen, überprüfte sie noch einmal ihr Kostüm. In dieser Rolle trug sie kein steifes Tutu. Ein fließendes Kleid aus dunkelblauem und türkisfarbenem Chiffon umspielte ihre zarten Kurven. Und anders als sonst trug sie das dunkle Haar nicht hochgesteckt, sondern offen, sodass es ihr in sanften Wellen über die Schultern fiel. Nur an den Seiten hatte sie einzelne Strähnen mit Nadeln zurückgesteckt.
Jetzt stimmte das Orchester ein neues Thema an.
Gleich bin ich dran! Konzentration! Allegra schloss die Augen und atmete tief durch.
Plötzlich tauchten die dunklen Augen eines Mannes vor ihr auf, die ihr neckend zuzwinkerten.
Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Wo war denn dieses Bild auf einmal hergekommen? Jetzt schlug ihr Herz gleich doppelt so schnell. Sie musste ihre Gedanken unter Kontrolle bringen. In weniger als einer Minute musste sie auf die Bühne.
Und dann sah sie wieder diese Augen vor sich – nur dieses Mal erblickte sie auch noch die dazugehörigen Lippen. Ein anziehender, maskuliner Mund, der sich zu einem warmen, ein wenig frechen Lächeln verzog.
Das musste wohl am Stress liegen!
Andere Tänzerinnen hatten ihr oft von den sonderbaren Gedanken erzählt, die ihnen unmittelbar vor einem Auftritt durch den Kopf gingen. Aber sie hatte solche Probleme bisher nie gehabt. Keine plötzlichen Grübeleien, was sie wohl später zum Abendbrot essen würde oder ob sie auch das Bügeleisen abgeschaltet hatte.
Wieso, zum Kuckuck, tauchte sein Bild vor ihrem geistigen Auge auf?
Das eines Mannes, den sie nicht einmal kannte.
Was hatte er in so einem wichtigen Moment in ihren Gedanken verloren? Es war wirklich sehr sonderbar! Und so ziemlich das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
In diesem Moment spielten die Violinen die Melodie, die den Auftritt der Meerjungfrau ankündigte. Glücklicherweise hatte Allegra sich so gut vorbereitet, dass ihr Körper reflexartig die richtigen Bewegungen ausführte, ohne sich groß um den abwesenden Geist der Besitzerin zu bekümmern.
Jetzt stand sie mitten auf der Bühne. Für einige Sekunden schwiegen die Instrumente. Das Publikum schien den Atem anzuhalten.
Allegra spürte die gespannten Blicke der Zuschauer. Ihretwegen waren sie gekommen. Sie durfte sie nicht enttäuschen, denn ihre Aufgabe bestand darin, sie zu begeistern, zu verzaubern und in eine andere Welt zu versetzen. Und als sie die Arme hob und in einer Reihe von zierlichen Sprüngen über die Bühne wirbelte, wünschte sie nichts sehnlicher, als dass sie sich selbst in eine andere Welt versetzen könnte. In eine Welt, in der niemand etwas von ihr erwartete, wo sie niemanden enttäuschen konnte.
Ich weiß Bescheid, dachte sie, während sie das Publikum in ihren Bann zog, ihm vorgaukelte, dass sie die kleine Meerjungfrau war. Ballett war nur von außen glamourös. Eigentlich war es ein knallhartes Geschäft. Schwerstarbeit. Und nicht wenige verkauften ihre Seele, um im Rampenlicht zu stehen. Mit welcher Begeisterung hatte sie sich in diese Welt gestürzt – und nun gab es kein Entrinnen mehr! Sie hatte keine andere Wahl.
„Sie waren großartig, Schätzchen“, säuselte die elegant gekleidete Frau, deren Namen Allegra vergessen, hatte.
„Danke“, erwiderte sie lächelnd. „Aber das Lob gebührt eigentlich Damien für die wundervolle Choreografie.“
„Unsinn“, ereiferte sich die Frau. „Sie waren der Star des Abends!“
So? Irgendwie kam Allegra alles so unwirklich vor. Die herausgeputzten Menschen mit ihren Champagnergläsern, die sie betrachteten, wenn sie meinten, sie würde es nicht merken, und sofort wegsahen, wenn sie sich zu ihnen umwandte. Wie sie diese After-Show-Partys satthatte!
„Entschuldigen Sie mich“, sagte Allegra abwesend. „Ich glaube, dort drüben steht mein Vater.“
„Ach?“ Neugierig sah die Frau sich um. „Natürlich, dort drüben an der Bar. Und was für ein außerordentlich begabter Dirigent Ihr Vater ist! Wahrscheinlich ist es für Sie eine große Beruhigung, ihn bei Ihren
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