Im Ruecken steckt das Messer - Geschichten aus der Gerichtsmedizin
Millionen Männer, Frauen und Kinder wirken wie ferngesteuert, wenn sie tagtäglich dasselbe tun. Einzeln oder in kleinen Gruppen verfolgen sie gespannt, wie ein oder mehrere Menschen getötet werden. Je drastischer, umso besser. Häufig wird sogar vergessen, dass es doch fiktive Tötungen sind. Die Schauspieler bleiben ja am Leben, denn wir sind im Kino oder beim Fernsehen. Besonders beliebt sind » true stories«, wobei von den Filmemachern genüsslich darauf hingewiesen wird - genau so hat es sich in der Realität abgespielt, genau so sind Menschen gequält, verletzt und umgebracht worden. Wer sich eine ganztägige TV-Berieselung antun möchte, findet sicher zu jeder Zeit ein passendes Programm und mindestens ein Kapitalverbrechen innerhalb von 30 Minuten. So käme man locker auf über 50 Leichen pro Tag.
Der Anreiz, den das Verbrechen ausübt, ist groß und vor allem zeitlos. Mord und Totschlag waren vor 3000 Jahren in den Räubergeschichten der Antike, man denke an Achilleus, Hektor und Agamemnon, genauso aktuell wie heute in den Romanen von Patricia Highsmith oder Donna Leon. Die alte Ilias oder das Nibelungenlied sind wesentlich grausamer als ein aktueller Tatort oder Columbo. Die menschlichen Abgründe in den dramatischen Tragödien lassen die Zuseher erschaudern, und genauso soll es sein, sagte schon Aristoteles, der Lehrmeister der Poetik. Schrecken und Entsetzen haben einen wichtigen Zweck, sie dienen der Reinigung des Menschen von seinen Erregungszuständen. Auch die Gladiatorenkämpfe im alten Rom spielten dieselbe
Rolle, es war nichts anderes als eine Reality-Show. Und wenn heute darüber geklagt wird, dass die Massenmedien die Menschen mit Verbrechen überschwemmen, sollten wir eines bedenken: Gegen den Horror in den Königsdramen von Shakespeare ist » Das Schweigen der Lämmer« eine Gutenachtgeschichte.
Die kunstvoll konstruierte Kriminalliteratur ist noch keine 200 Jahre alt. Den Anfang machten E.T.A. Hoffmann mit » Das Fräulein von Scuderi« (1818) und E. A. Poe mit » Die Morde in der Rue Morgue« (1841). Da eigentlich alle Krimis von Bedeutung auch verfilmt wurden, kommen uns heute die Figuren der Handlung sehr vertraut vor, und nicht nur Kinder meinen, die besten Spurensucher wären Sherlock Holmes und Kommissar Rex .
Erst in den letzten Jahrzehnten tauchten die Gerichtsmediziner auf. Dr. Watson war zwar Arzt, aber lediglich Begleiter und Berichterstatter bei den Ermittlungen von Sherlock Holmes . Edgar Wallace und Agatha Christie kamen weitgehend ohne gerichtsmedizinische Untersuchungen aus. Bei Derrick erschien der Arzt zwar regelmäßig am Tatort, konnte jedoch außer einer stereotyp-ungefähren Angabe zum Todeszeitpunkt nichts Wesentliches beitragen. Da war der unermüdliche Quincy schon ein ganz anderes Kaliber, aber er kam der Realität ebenso wenig nahe wie Dr. Kay Scarpetta, die Heldin der Romane von Patricia Cornwell. Ganz gut charakterisiert ist die Rolle des Dr. Graf in der Fernsehserie » Kommissar Rex «, wo sogar in einem echten Seziersaal gedreht wird. Kurios wie immer in Film und Fernsehen ist der kurze Bildschwenk zur »Leiche«, die fein säuberlich zugedeckt daliegt.
Es würde ja wirklich das Publikum etwas überfordern, die Präparation eines Schusskanals quer durch den ganzen Körper mitverfolgen zu müssen, ganz zu schweigen von der Inspektion des aufgeschnittenen sieben Meter langen Darmes oder dem Zusammensetzen eines zertrümmerten Schädels. Aber da wir ja in den Nachrichtensendungen genug reale Leichen sehen, ist es gar
nicht verwunderlich, dass findigen Köpfen im Sinne der »Authentizität« noch einiges eingefallen ist.
In Deutschland werden Mordermittlungen als Freizeitvergnügen angeboten, quasi als Abenteuerurlaub. Die Agentur »Blutspur« bietet Mordgeschichten zum Mitmachen an, pro Person um rund 360 Euro für ein Wochenende. Die Ausgangslage ist jeweils als Tatort konstruiert, Spuren sind gelegt, Indizien und Beweisstücke vorbereitet. Täter und Opfer sind Schauspieler, die sich bemühen, originalgetreu zu agieren. So liegt etwa die Opfer-Darstellerin mit roter Farbe beschmiert in der Badewanne. Die Veranstaltung wird allgemein als »besser als im Fernsehen« gelobt, jeder Fall wird am Ende aufgeklärt.
In Amerika ging man schon einen Schritt weiter. Der Kabelsender Court TV (Gerichts-TV) brachte Realität. In der Reihe »Confession« (Geständnis) erzählten verurteilte Schwerverbrecher 30 Minuten lang jeweils ihre Taten, und das hörte sich dann so
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