Im Schatten der Akazie
verbrachte Ramses ein oder zwei Stunden bei einem Töpfer. Es gefiel ihm, zuzusehen, wie die Hände die Tonerde kneteten, um daraus einen Krug zu formen, in dem dereinst Wasser frisch gehalten oder feste Nahrungsmittel aufbewahrt werden sollten. Schuf nicht auch der Gott mit dem Widderhaupt unentwegt die Welt und die Menschheit auf seiner Töpferscheibe?
Der König und der Handwerker wechselten kein Wort.
Gemeinsam lauschten sie dem Geräusch der Scheibe, erlebten schweigend den geheimnisvollen Vorgang, wie sich eine formlose Masse in einen nützlichen und harmonischen Gegenstand verwandelte.
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Der Sommer brach an, und Ramses gedachte, wieder in die Hauptstadt zu ziehen, wo die Hitze weniger drückend war. Für gewöhnlich verließ Ameni seine dank hoher Fenster gut durchlüftete Schreibstube nicht mehr, deshalb war der König überrascht, als er ihn nicht an seinem Arbeitstisch antraf.
Zum erstenmal in seiner langen Laufbahn gönnte sich Ramses’ Oberster Schreiber nicht nur am hellichten Tag eine Ruhepause, sondern setzte sich selbst auf die Gefahr hin, daß sie ihm die sehr bleiche Haut verbrannte, sogar der Sonne aus.
»Moses ist tot«, erklärte Ameni völlig verstört.
»Hat er Erfolg gehabt?«
»Ja, Majestät. Er hat sein Gelobtes Land gefunden, in dem sein Volk fortan in Freiheit leben wird. Unser Freund hat seine lange Suche beendet, das Feuer in ihm hat sich in einen Landstrich verwandelt, in dem Wasser und Honig reichlich fließen.«
Moses … Einer der Baumeister von Pi-Ramses, der Mann, dessen Glaube über viele Jahre des Umherirrens triumphiert hatte, der Prophet mit der unbeirrbaren Überzeugung! Moses, der Sohn Ägyptens und geistige Bruder Ramses’, Moses, dessen Traum sich erfüllt hatte.
Das Gepäck des Königs und seines Obersten Schreibers stand bereit. Noch ehe der Vormittag zu Ende ging, würden sie sich nach Norden einschiffen.
»Begleite mich«, bat der Pharao seinen Freund Ameni.
»Wo willst du hin?«
»Ist das nicht ein prächtiger Tag? Ich möchte mich unter der Akazie meines Tempels für die Ewigkeit ausruhen, unter dem Baum, den ich im Jahre zwei meiner Herrschaft gepflanzt habe.«
Der Tonfall in der Stimme des Königs ließ Ameni schaudern.
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»Wir sind im Begriff abzureisen, Majestät.«
»Komm, Ameni.«
Die große Akazie des Tempels der Millionen Jahre schimmerte in der Sonne, und durch ihr Laubwerk strich ein leiser Wind. Wie viele Akazien hatte Ramses pflanzen lassen, und wie viele Tamarisken, Perseas, Feigen- und Granatapfelbäume, Weiden und andere Vertreter aus dieser vielfältigen Familie der Bäume, die er so liebte?
Wächter, der alte Hund und Erbe einer ganzen Dynastie getreuer Gefährten des Königs, vergaß seine Beschwerden, um Ramses zu folgen. Weder er noch sein Herr kümmerten sich um das summende Ballett der Bienen in der üppig blühenden Akazie, doch der zarte Duft der Blüten erfreute die Nase des Tiers ebenso wie die des Menschen.
Ramses setzte sich, den Rücken an den Stamm gelehnt, unter den Baum, und Wächter rollte sich auf seinen Füßen zusammen.
»Ameni, weißt du noch, welche Worte die Göttin der Akazie des Westens spricht, wenn sie die Seelen im Jenseits empfängt?«
»‹Nimm dieses kühle Wasser, auf daß dein Herz leicht werde von ihm, von diesem göttlichen Wasser, das aus dem rituellen Becken der Totenstadt kommt; nimm diese Opfergabe, auf daß deine Seele in meinem Schatten wohne.›«
»Sie ist unsere himmlische Mutter, die uns das Leben schenkt«, rief Ramses dem Freund in Erinnerung, »und sie bringt den Geist des Pharaos zu den unermüdlichen und unvergänglichen Sternen.«
»Du hast vielleicht Durst, Majestät. Ich hole …«
»Bleib, Ameni. Ich bin müde, mein Freund, mich befällt eine tödliche Müdigkeit. Weißt du noch, wie wir von der wahren Macht sprachen? Du warst damals der Meinung, allein der 423
Pharao sei in der Lage, sie auszuüben, und du hattest recht, vorausgesetzt, daß er die Gesetze der Maat achtet und unaufhörlich gegen die Finsternis kämpft. Wenn diese Kraft nachläßt, dann zerbricht das Bündnis zwischen Himmel und Erde, und die Menschheit wird der Gewalt und der Ungerechtigkeit preisgegeben. Die Geschichte einer Herrschaft, sagte mein Vater, soll der eines Festes gleichen, bei dem der Pharao für den Kleinen wie den Großen sorgt, daß keiner zum Schaden des anderen begünstigt werde. Heute können die Frauen sorglos ihrer Wege gehen, die Kinder lachen, und die Alten ruhen im
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