Im Schatten der Akazie
sardische Riese betrat das Anwesen und schlug eilends den sandigen Pfad ein, der zum Wasserbecken führte. Drei 6
weitere Soldaten bewachten ohne Unterlaß den ehemaligen Oberbefehlshaber der hethitischen Armee, der sich die Zeit mit Essen, Trinken, Schwimmen und Schlafen vertrieb.
Hoch oben am Himmel flogen Schwalben, und ein Wiedehopf streifte Serramannas Schulter. Mit zusammengebissenen Zähnen, geballten Fäusten und grimmigem Blick bereitete er sich darauf vor, zu tun, was er tun mußte, und bedauerte zum erstenmal, in Ramses’ Diensten zu stehen.
Wie ein Raubtier, das die drohende Gefahr wittert, wachte Uriteschup auf, noch ehe er den schweren Schritt des Sarden vernahm.
Von hohem Wuchs, muskulös, mit wallender Mähne und fuchsrot behaarter Brust, hatte Uriteschup nichts von seiner Kraft eingebüßt.
Er lag auf den Steinplatten, die das Wasserbecken säumten, und sah aus halbgeschlossenen Augen den Vorsteher der Leibwache Ramses’ des Großen auf sich zukommen.
Es war wohl soweit!
Seit der Unterzeichnung des entsetzlichen Friedensvertrages zwischen Ägypten und dem Hethiterreich hatte Uriteschup sich nicht mehr sicher gefühlt. Hunderte Male war er willens gewesen zu fliehen, aber Serramannas Männer hatten ihm keine Gelegenheit dazu gelassen. Er war der Auslieferung also nur entronnen, um nun von einem Rohling, der ihm an Gewalttätigkeit in nichts nachstand, wie ein Schwein abgeschlachtet zu werden.
»Steh auf!« herrschte Serramanna ihn an.
Uriteschup war nicht daran gewöhnt, Befehle entgegenzunehmen. Langsam, als koste er seine letzten Bewegungen aus, erhob er sich und blickte trotzig den Mann an, der ihm nun gleich die Kehle durchschneiden würde.
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In Serramannas Augen flammte nur mühsam unterdrückter Zorn.
»Schlag schon zu, du Henker«, höhnte der Hethiter, »wenn dein Herr es doch fordert. Ich werde dir nicht einmal den Gefallen tun, mich zu wehren.«
Die Finger des Sarden umklammerten den Griff seines kurzen Schwerts.
»Verschwinde!«
Uriteschup glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
»Was sagst du?«
»Du bist frei.«
»Frei … Wieso frei?«
»Du räumst dieses Haus und ziehst, wohin es dir beliebt. Der Pharao achtet das Gesetz. Es gibt keinen Grund mehr, dich noch länger hier zurückzuhalten.«
»Du machst wohl Witze.«
»Es herrscht Frieden, Uriteschup. Aber falls du den Fehler begehst, in Ägypten zu bleiben, und auch nur die leiseste Unruhe stiftest, werde ich dich festnehmen. Dann giltst du nicht mehr als fremdländischer Würdenträger, sondern als gewöhnlicher Verbrecher. Wenn es an der Zeit ist, dir mein Schwert in den Bauch zu stoßen, werde ich nicht lange zögern.«
»Aber im Augenblick darfst du dich nicht an mir vergreifen.
So ist das doch, nicht wahr?«
»Verschwinde!«
Eine Matte, ein Schurz, Sandalen, ein Laib Brot, ein Bund Zwiebeln und zwei Amulette aus Fayence, die er gegen Nahrungsmittel eintauschen mochte, das war die spärliche Habe, die Uriteschup zugestanden wurde und mit der er gleich einem Nachtwandler mehrere Stunden durch die Straßen der Hauptstadt irrte. Von der wiedergewonnenen Freiheit wie 8
trunken, war der Hethiter nicht imstande, klar zu denken.
»Es gibt keine schönere Stadt als Pi-Ramses«, hieß es in einem beliebten Lied, »wo der Kleine so geachtet wird wie der Große, wo Akazie und Sykomore ihren Schatten spenden, wo die Paläste in Gold und Türkis erstrahlen, wo der Wind voller Sanftmut weht und Vögel über die Weiher flattern.«
Uriteschup ließ sich von der Anmut dieser Hauptstadt bezaubern, die in einem fruchtbaren Landstrich unweit eines Nilarms zwischen zwei breiten Kanälen lag, inmitten üppiger Weiden, unzähliger Obstgärten mit den berühmten Apfelbäumen, ausgedehnter Olivenhaine, von denen behauptet wurde, sie lieferten mehr Öl, als der Fluß Sand ans Ufer schwemmte, und umgeben von Rebland, aus dem der süße, fruchtige Wein stammte … Pi-Ramses unterschied sich erheblich von Hattuscha, der rauhen, gleich einer Festung auf einer zerklüfteten Hochebene errichteten Hauptstadt des Hethiterreiches.
Ein schmerzlicher Gedanke durchzuckte Uriteschup und riß ihn aus seiner Benommenheit: Nie würde er König von Hatti werden! Dafür konnte er sich nun an Ramses rächen, der den Fehler begangen hatte, ihm die Freiheit zu schenken. Wenn er den Pharao beseitigte, der seit seinem Sieg bei Kadesch wie ein Gott verehrt wurde, dann stürzte er Ägypten und vielleicht sogar den ganzen Vorderen Orient ins Chaos.
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