Im Schatten der Akazie
einen Mann dazu treibt, sich selbst zu zerstören, indem er die Maat verrät. Deine Zukunft liegt nun in den Händen der Richter.«
Dank seiner unerbittlichen Untersuchung hatte Ameni das Land vor einer echten Gefahr bewahrt. Der König hätte ihn gerne dafür belohnt, aber wie, ohne ihn zu kränken? Zwischen den beiden Männern hatte ein kurzer, verschwörerischer Blick ausgereicht. Dann hatte sich Ameni wieder an die Arbeit gemacht.
Tage und Monate verstrichen, schlicht und glücklich, bis zum Frühling des vierundfünfzigsten Regierungsjahrs Ramses’ des Großen, der eine Entscheidung gegen den Rat der Obersten Heilkundigen, Neferet, getroffen hatte. Durch die Feier seines neunten Erneuerungsfestes wieder gestärkt, hatte der Herrscher den Wunsch verspürt, Ägypten zu durchstreifen.
Der Monat Mai hatte die große Hitze zurückgebracht, die den 409
Rheumatismus des Königs linderte.
Es war die Zeit der Ernte. Die Bauern gingen mit Sicheln über ihre Felder und schnitten die Halme des reifen Korns.
Dann wurden die Ähren von unermüdlichen Eseln zu den Dreschplätzen gebracht. Das zu Garben gebundene Stroh wurde zu Schobern in der Form abgestumpfter Pyramiden aufgestellt, was geübte Hände erforderte, denn sie mußten einen Großteil des Jahres standfest bleiben. Um sie zu verstärken, steckte man zwei lange Stöcke hinein.
Sobald der Pharao in einem Dorf eintraf, führten die Würdenträger ihn an einen mit Ähren und Blumen beladenen Opfertisch. Dann setzte er sich in eine Laube und hörte sich ihre Klagen an. Die Schreiber machten eifrig Notizen und schickten sie an Ameni, der darauf bestanden hatte, alle während dieser Reise verfaßten Berichte zu lesen.
Der König konnte sich davon überzeugen, daß es um den Ackerbau insgesamt recht gut bestellt war und daß es kein Übel gab, dem nicht abzuhelfen gewesen wäre, obgleich die Vollkommenheit unerreichbar blieb. Auch diejenigen, die etwas zu klagen hatten, gaben sich friedfertig, mit Ausnahme eines Bauern in Beni Hassan, dessen Heftigkeit das Gefolge des Pharaos entsetzte.
»Meine Tage verbringe ich auf dem Acker«, klagte er,
»nachts setze ich mein Werkzeug instand, ich suche meine Tiere, die unablässig davonlaufen, und dann kommt noch der Steuereintreiber, der über mich herfällt und mich ausplündert.
Mit seiner Armee von Habgierigen behandelt er mich wie einen Dieb, roh schlägt er mich, weil ich keine Abgaben leisten kann, und er fesselt meine Frau und meine Kinder. Wie könnte ich da glücklich sein?«
Jeder fürchtete, daß Ramses in Zorn geraten würde, doch er blieb ganz ruhig.
»Möchtest du noch mehr Klagen vorbringen?«
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Der Bauer war überrascht.
»Nein, Majestät, nein …«
»Einer deiner Angehörigen ist Schreiber, nicht wahr?«
Dem Mann gelang es nicht, seine Verlegenheit zu verbergen.
»Ja, aber …«
»Er hat dir einen sehr alten Text beigebracht, der in allen Schreiberschulen gelehrt wird, denn die Schreiber rühmen ihren eigenen Beruf über Gebühr, um die anderen um so schlechter zu machen, und du hast ihn recht gut aufgesagt.
Aber leidest du wirklich unter all den Übeln, die du mir beschrieben hast?«
»Es gibt schon Tiere, die davonlaufen und von einem Feld zum anderen ziehen … Und das bringt Ärger.«
»Wenn es dir nicht gelingt, dich mit deinen Nachbarn im guten zu verständigen, dann wende dich an den Richter des Dorfes. Und dulde nie eine Ungerechtigkeit, sei sie auch noch so klein. Auf diese Weise hilfst du dem Pharao regieren.«
Ramses nahm zahlreiche Vorratshäuser in Augenschein und befahl den Kornmessern, den Scheffel mit Strenge zu handhaben. Dann eröffnete er in Karnak das Erntefest, indem er begann, einen der großen Speicher des Amun zu füllen.
Priester und Würdenträger stellten fest, daß der Herr der Beiden Länder trotz seines Alters noch eine feste, sichere Hand hatte.
Bakhen, der Oberpriester, begleitete seinen hohen Gast auf einem Weg, der zwischen üppigen Feldern in der Nähe des Tempels zu einem Anlegesteg führte. Ermüdet hatte Ramses eingewilligt, sich in einer Sänfte tragen zu lassen.
Bakhen entdeckte als erster einen Faulpelz, der, anstatt mit seinen Gefährten zu arbeiten, unter einer Weide vor sich hin döste. Er hoffte, der König werde ihn nicht sehen, aber 411
Ramses’ Auge war noch scharf.
»Dieses Vergehen wird bestraft«, versprach der Oberpriester.
»Sei ausnahmsweise einmal nachsichtig. Habe ich nicht selbst angeordnet, in ganz Ägypten Weiden zu
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