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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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zu fragen hatte er nicht gewagt, schon gar keinen, der mit der Polizei zu tun hatte. Allein die Witterung seiner Schwäche hätte seinen Feinden genügt, ihn zu zerfleischen. Für einen Kriminalbeamten ohne Gedächtnis war kein Platz. Seine Waffen wären ebenso dahin wie sein Schutz! Das Armenhaus war ein Alptraum, dem so mancher den Hungertod vorzog.
    Stück für Stück hatte er sich wiederentdeckt. Und dennoch war ihm der größte Teil verborgen oder bloße Vermutung geblieben; er konnte sich schlicht nicht erinnern. Vieles war schmerzlich gewesen. Der Mann, der sich da zeigte, war nicht eben liebenswert, und er hegte eine dunkle Angst vor dem, was noch zu entdecken war: Rücksichtslosigkeit, Ehrgeiz, unbarmherzige Brillanz. Ja, er wußte Bescheid über die Notwendigkeit zu vergessen, was Herz oder Verstand nicht zu verkraften vermochten.
    Sie starrte ihn an, in ihrem Gesicht standen Verwirrung und wachsende Sorge.
    Rasch hatte er sich wieder gesammelt. »Selbstverständlich, Mrs. Penrose. Es ist ganz natürlich, daß Ihre Schwester einen so unseligen Vorfall aus ihrem Gedächtnis streicht. Haben Sie ihr gesagt, daß Sie zu mir kommen?«
    »O ja«, sagte sie rasch. »Es wäre wohl ziemlich sinnlos, so etwas hinter ihrem Rücken zu versuchen. Sie war nicht gerade angetan von dem Gedanken, aber ihr ist klar, daß es bei weitem das beste ist.« Sie beugte sich etwas weiter vor. »Um ehrlich zu sein, Mr. Monk, ich glaube, sie war so erleichtert, daß ich nicht zur Polizei gegangen bin, daß sie es anstandslos akzeptiert hat.«
    Nicht eben schmeichelhaft, aber seine Eitelkeit zu befriedigen war etwas, was er sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr leisten konnte.
    »Sie wird sich also nicht weigern, mit mir zu sprechen?« fragte er.
    »Nein, nein, obwohl ich Sie bitten möchte, so behutsam wie möglich vorzugehen.« Sie errötete leicht, als sie den Blick hob, um ihm direkt in die Augen zu sehen. Ihre schmale Kinnpartie wirkte merkwürdig entschlossen. Sie hatte ein sehr weibliches Gesicht, feinknochig, aber nicht schwach. »Sehen Sie, Mr. Monk, das ist der große Unterschied zwischen Ihnen und der Polizei. Verzeihen Sie mir meine Unhöflichkeit, aber die Polizei steht im Dienst der Öffentlichkeit, ihre Ermittlungen werden vom Gesetz bestimmt. Sie dagegen, Sie werden von mir bezahlt, und ich kann Ihnen jederzeit Einhalt gebieten, wenn mir das moralisch richtiger oder weniger schmerzlich erscheint. Sie sind mir doch nicht böse, daß ich auf diesen Unterschied hinweise?«
    Weit gefehlt. Innerlich mußte er sogar lächeln. Er verspürte zum erstenmal einen Funken aufrichtigen Respekts für sie.
    »Ich verstehe sehr wohl, worauf Sie hinauswollen, Madam«, antwortete er im Aufstehen. »Ich bin natürlich moralisch wie gesetzlich dazu verpflichtet, ein Verbrechen zu melden, sobald ich es beweisen kann, aber im Fall einer Vergewaltigung – ich bitte mir das häßliche Wort nachzusehen, aber ich gehe davon aus, daß wir von Vergewaltigung sprechen?«' »Ja«, sagte sie, wenn auch kaum hörbar. Ihr Unbehagen war nur zu offensichtlich.
    »Bei dieser Art Verbrechen muß das Opfer Anzeige erstatten und aussagen, womit die Angelegenheit also ausschließlich in den Händen Ihrer Schwester liegt. Was auch immer ich herausfinde, die Entscheidung liegt ganz bei ihr.«
    »Ausgezeichnet.« Sie stand ebenfalls auf, und als die Reifen ihres Rocks an ihren Platz fielen, stellte sich auch die zarte Figur wieder ein. »Ich nehme an, Sie werden sich sofort an die Arbeit machen?«
    »Noch heute nachmittag, wenn es Ihrer Schwester recht ist. Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wie sie heißt.«
    »Marianne – Marianne Gillespie. Ja, heute nachmittag paßt es ausgezeichnet.«
    »Sie haben gesagt, Sie hätten sich etwas von Ihrem Kleidergeld abgespart, eine nicht unbeträchtliche Summe, wie mir scheint. Liegt der Vorfall denn schon einige Zeit zurück?«
    »Zehn Tage«, sagte sie rasch. »Ich bekomme mein Haushaltsgeld im Quartal. Und da ich, wie es der Zufall will, ausgesprochen umsichtig gewirtschaftet habe, ist vom letzten Mal noch ein Gutteil übrig.«
    »Ich danke Ihnen, aber Sie sind mir keine Rechenschaft schuldig, Mrs. Penrose. Ich wollte nur wissen, wann sich der Vorfall ereignet hat.«
    »Natürlich schulde ich Ihnen nichts. Aber ich möchte, daß Sie wissen, daß ich Ihnen die absolute Wahrheit sage, Mr. Monk. Wie kann ich sonst Hilfe von Ihnen erwarten. Ich vertraue Ihnen und verlange dasselbe von Ihnen.«
    Er lächelte

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