Im Schatten der Gerechtigkeit
weiteren hundert Metern die Euston Road erreichte.
Monk schloß die Tür und kehrte in den Raum zurück, der ihm als Büro diente. Er war erst kürzlich aus seinem alten Quartier in der Grafton Street, gleich um die Ecke, ausgezogen. Er hatte es Hester, von der der Vorschlag stammte, zunächst übelgenommen, daß sie sich in der ihr eigenen Art in sein Leben mischte, aber als sie ihm die Gründe erklärt hatte, mußte er ihr zustimmen. Seine Zimmer in der Grafton Street hatten nach hinten hinaus und im ersten Stock gelegen. Seine Wirtin war zwar eine mütterliche Natur, aber sie hatte sich einfach nicht daran gewöhnen können, daß er nun privat arbeitete, und seine potentiellen Klienten entsprechend unwillig nach oben geführt. Zudem hatte man die Türen anderer Hausbewohner zu passieren, und gelegentlich begegnete man einem von ihnen auf der Treppe oder im Flur. Das neue Arrangement war weitaus bequemer. Hier öffnete ein Dienstmädchen, das sich erst gar nicht nach dem Begehr der Leute erkundigte; sie führte sie einfach in Monks Wohnzimmer. Wenn auch widerwillig, gab er zu, daß das eine entschiedene Verbesserung war.
Jetzt galt es, sich auf die Ermittlungen im Fall von Marianne Gillespies Vergewaltigung vorzubereiten, einer ebenso heiklen wie schwierigen Angelegenheit, eines Mannes von seinem Kaliber weit würdiger als der kleine Diebstahl eines Domestiken oder der Ruf eines Bräutigams oder Angestellten.
Es war ein schöner Tag, als er sich auf den Weg machte: eine hochstehende heiße Sommersonne brannte auf das Pflaster und machte die baumbestandenen Plätze zu einem angenehmen Zufluchtsort vor dem gleißenden Licht. Mit klirrendem Geschirr klapperten die Kutschen an ihm vorbei; die Leute waren unterwegs, um frische Luft zu schnappen oder auf dem Weg zu einem frühnachmittäglichen Besuch; Kutscher und Lakaien trugen Livreen mit auf Hochglanz polierten Messingknöpfen. Der stechende Geruch frischer Roßäpfel lag in der Luft, und ein zwölfjähriger Junge, der die Fußgängerübergänge fegte, wischte sich unter dem Schirm seiner weiten Mütze den Schweiß von der Stirn.
Monk ging zu Fuß in die Hastings Street. Es war etwas über eine Meile, und in der Zeit, die er dazu benötigte, hatte er Gelegenheit nachzudenken. Er freute sich über die Herausforderung eines schwierigen Falles, an dem sich sein Können messen ließ. Seit dem Prozeß um Alexandra Carlyon hatte man ihm nichts als banale Probleme angetragen, Dinge, die er als Polizist dem jüngsten seiner Konstabler anvertraut hätte. Der Fall Carlyon freilich war etwas anderes gewesen. Er hatte sein Können auf eine harte Probe gestellt. Er dachte daran mit gemischten Gefühlen zurück, gleichzeitig triumphierend und schmerzlich berührt. Und mit dem Gedanken daran stellte sich auch die Erinnerung an Hermione ein. Unbewußt beschleunigte er seine Schritte auf dem heißen Pflaster, sein Körper versteifte sich, er biß die Zähne zusammen. Er hatte Angst bekommen, als ihr Gesicht ihm durch den Kopf gehuscht war – ein Fetzen aus der Vergangenheit, mit dem er nicht so recht wußte wohin; das Echo einer Liebe, von Zärtlichkeit und schrecklichen Ängsten verfolgte ihn. Er wußte, er hatte sie geliebt, aber nicht wann oder wie; auch nicht, ob sie seine Liebe erwidert hatte oder was zwischen ihnen passiert war, er hatte gar nichts aufzuweisen: keine Briefe, keine Bilder, nicht der geringste Hinweis auf sie war in seinem Besitz.
Aber schließlich waren ihm ungeachtet seines Gedächtnisverlusts seine Fertigkeiten geblieben und mit diesen sein rücksichtsloses Engagement. Er hatte sie wiedergefunden, Stück für Stück zusammengesetzt, bis er auf der Schwelle stand. Und schließlich hatte er auch wieder gewußt, wer sie war: ihr sanftes, fast kindliches Gesicht, die braunen Augen, der strahlende Kranz ihres Haars. Die Erinnerung schlug über ihm zusammen.
Er schluckte trocken. Warum quälte er sich so? Zornig loderte die Enttäuschung in ihm, als wäre das alles erst wenige Augenblicke her: das schmerzliche Wissen, daß sie die komfortable Existenz in einer halbherzigen Liebe vorgezogen hatte; Gefühle, die sie nicht forderten; eine Hingabe von Körper und Geist, nicht aber des Herzens; stets reserviert, um dem Schmerz keine Chance zu lassen. Ihre Güte war eine Gefälligkeit, mit Mitgefühl hatte sie nichts zu tun. Sie hatte nicht den Mut, mehr als nur am Leben zu nippen, sie würde den Becher nie bis nur Neige leeren.
Er lief so blind vor sich hin, daß
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