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Im Schatten der Mitternachtssonne

Im Schatten der Mitternachtssonne

Titel: Im Schatten der Mitternachtssonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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verstärkte seinen Argwohn, doch er sagte nichts. Schweigend begab er sich in den vorderen Teil des Hauses, wo sich sein Laden befand. Sie verstand es, ihr Gesicht ohne Ausdruck zu lassen, und das ärgerte ihn, weil sie ihre Gedanken verbarg — ob glückliche, traurige oder schuldbewußte. Er entzündete eine Bärenfettlampe, kauerte sich vor einen Stapel aus Biberfellen, Nerzen und Ottern, sortierte sie methodisch nach Größe und Beschaffenheit und setzte im Geist den Preis für jedes einzelne Fell fest. Darauf verstand er sich, und dafür dankte er seinem verstorbenen Vater, der ihm ein strenger Lehrmeister gewesen war.
    Im hinteren Wohnbereich des Hauses verrichtete Zarabeth ihre Hausarbeit wie üblich, doch ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem Wikinger zurück. Sie redete mit Lotti, während sie die Holzschalen und Messer wusch. Später badete sie das Kind und legte es in den schmalen Bettkasten, der in der Kammer stand, die sie beide teilten, und deckte es liebevoll mit weichen Decken zu.
    Als sie schließlich neben Lotti lag, eingewickelt in eine Wolldecke, dachte sie wieder an Magnus Haraldsson. Sie sollte ihn morgen nach der christlichen Messe treffen, hatte er gesagt. Nein, hatte er befohlen. Sie lächelte in die Dunkelheit. Er war nur ein Mann wie jeder andere, sagte sie sich, dennoch faszinierte er sie. Sie hörte, wie ihr Stiefvater die Kammer neben ihrer betrat; einen größeren Raum mit einem breiten Bettkasten, einer mit Federn gefüllten Matratze und einer großen Truhe, die seine Kleider enthielt. Die Zwischenwände im Haus waren dünn.
    Sie hörte, wie er sich entkleidete, wußte, daß er alles ordentlich faltete, hörte, wie er sorgfältig seinen goldenen Armreif und die drei Ringe abstreifte. Dann rülpste er. Sie stellte sich vor, wie er sich den Bauch rieb und dann ins Bett kroch. Kurze Zeit später drang sein lautes Schnarchen zu ihr herüber.
    Sie lag noch lange wach und fragte sich, wo Magnus jetzt war, was er wohl dachte, und was er machte.
    Magnus stand an Bord seines Bootes Seewind zwischen zwei Rudern neben der Pinne, die Ellbogen auf den Handlauf des Dollbords gestützt, seine Körperbewegungen dem sanften Schwanken der Schiffsplanken angepaßt. Die Wellen schwappten leise gegen den Bootsrumpf. Das Wasser war ruhig im kleinen Flußhafen, der durch breite Erdwälle gut geschützt war. Er blickte über die sechs anderen Boote, die längsseits des Holzstegs auf dem Fluß Ouse angedockt lagen. Allesamt Handelsschiffe, keine Kriegsschiffe. Sie waren breiter, mit hochgezogenen Schiffswänden, um den Innenraum vor hohen Wellen zu schützen. Die Planken waren genagelt, nicht wie bei Kriegsschiffen überlappend verarbeitet. Das Boot hatte ein großes, viereckiges Segel aus grobem, weißen Sackleinen, mit roten Streifen doppelt vernäht, was ihm größere Festigkeit verlieh. Im Heck des Schiffes gab es zwei überdachte Bereiche unter schrägen Eichenplanken, um die kostbare Fracht vor Wind und Wetter zu schützen. Unter den Schiffsplanken befand sich ein weiterer flacher Frachtraum.
    Magnus hatte das Langschiff vor drei Jahren bauen lassen. Und er plante, im nächsten Jahr ein zweites Boot von einem Schiffsbauer in Kaupang fertigen zu lassen, der nicht nur für seine Qualitätsarbeit, sondern auch für seine Schnelligkeit berühmt war. Er galt außerdem als etwas verrückt, trug einen langen, wallenden Bart und hatte dunkle, glühende Augen. Magnus mochte ihn ziemlich gem. Er sagte den Leuten auf unverschämte Art die Meinung, ohne sie direkt zu beleidigen, und niemand nahm ihm seine Frechheiten krumm.
    Magnus rieb die Hände aneinander. Er blickte auf die Stadt York, der größten Handelsstadt und Haupthandelsplatz der Wikinger auf den Britischen Inseln. Zu seiner Linken lag der alte Teil der Stadt, bestehend aus strohbedeckten Lehmhütten. Das reichere Stadtviertel bestand aus dicht gedrängten Holzhäusern, darunter auch das Haus von Olav dem Eitlen, neben langgestreckten, flachen Lagerhäusern und einem guten Dutzend christlicher Steinkirchen. Es gab auch Gebäude aus schweren Eichenplanken, die auf den Fluß blickten. Am Zusammenfluß von Ouse und Fosse standen Häuser aus schweren Eichenplanken. Vor einigen Jahren hatten die Wikinger eine Brücke über den Ouse erbaut, die den rasch anwachsenden Verkehr um das alte römische Fort umleitete. York hatte sich im Lauf der Jahre verändert, seit die Wikinger an die Macht gekommen waren. Die Einwohnerzahl hatte sich auf dreißigtausend

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