036 - Der Wolfsmensch im Blutrausch
Sie warf
einen letzten Blick hinaus in die mondhelle Nacht, ehe sie die Läden vorzog.
Ein schmaler Mondstrahl fiel durch die Ritzen und lag wie ein Silberstreifen auf
dem mit einem Bastteppich ausgelegten Fußboden. Ruhe und Einsamkeit hüllten die
Achtzehnjährige ein. Sie fuhr mit einer verträumten Bewegung durch das blonde,
lange Haar, das ihre nackten Schultern berührte. Sie trug außer einem winzigen
Slip kein weiteres Kleidungsstück.
Aber hier war niemand, der sie hätte beobachten können. Sie fühlte
sich frei und unbeschwert.
Doch dieser Eindruck täuschte. Ein Augenpaar war in der Dunkelheit
auf sie gerichtet und verfolgte jede ihrer Bewegungen.
Auf Zehenspitzen ging Siw Malström in das angrenzende Zimmer.
Hier, im entlegensten Raum - vom Eingang aus gesehen - wollte sie warten. Erik
hatte ebenso wie sie einen Schlüssel zu diesem Sommerhaus, und sie freute sich
wie ein kleines Mädchen auf die Überraschung, die ihr bevorstand.
Aufatmend lehnte sie sich in den Korbsessel zurück und schlug die
langen, gebräunten Beine übereinander, auf denen das fahle Mondlicht zu sehen
war, das durch die nicht völlig geschlossenen Fensterläden fiel.
Plötzlich war da ein Geräusch.
Siw Malström lauschte.
Erik! So dachte sie. Doch daß sie vollkommen danebengetippt hatte,
merkte sie erst, als es schon zu spät war. Ein Schatten fiel von hinten quer
über ihre Beine und löschte das fahle Mondlicht aus, das auf ihrer Haut
spielte.
Mit einem leisen Aufschrei warf Siw Malström ihren Kopf herum.
Krallenartige Hände kratzten ihr mitten ins Gesicht, so daß breite, blutige
Streifen ihren Teint verunstalteten.
Siw Malström streckte abwehrend beide Hände aus und wollte sich
vor dem unheimlichen Eindringling schützen, dessen Anwesenheit sie sich nicht
erklären konnte. Sie schlug, schrie und versuchte, sich dem kraftvollen Zugriff
der Klauen zu entziehen.
Vergebens!
Sie vermochte gegen die urwüchsige Kraft des Angreifers nichts
auszurichten.
Die Krallen bohrten sich in ihre Schultern und ihre Brust und
hinterließen tiefe Wunden, aus denen Blut quoll. Wie durch einen heftig
wogenden, dunkelroten Nebel sah sie die verzerrte Fratze vor sich. Es war kein
menschliches Gesicht! Siw Malström sah bernsteinfarbene Augen und spürte die
scharfen Zähne, die sich in ihre Oberarme gruben. All diese Dinge nahm sie
verschwommen wahr. Ihre Gedanken bildeten ein wirres Durcheinander aus Angst
und Panik, Verwirrung und Ratlosigkeit.
Eine Bestie! Sie war einem Raubtier in die Fänge geraten.
Ein Wolf?
Sie lag am Boden und fühlte, wie ihre Kräfte schwanden. Der starke
Blutverlust machte sich bemerkbar.
Erik, schrie es in ihr, komm schnell! Sie bewegte sogar die
Lippen, aber sie war schon zu schwach, um Worte zu formen.
Ihre blutbesudelten Hände beschmutzten den Bastteppich, der ihren
Lebenssaft aufsog. Blutbespritzt waren die hellen Holzwände, der Korbsessel,
die Schwedenliege.
Schrecklich zugerichtet fiel der Kopf Siw Malströms zur Seite. Die
junge Schwedin war tot. In ihren weitaufgerissenen Augen und ihrem verzerrten
Gesicht stand zu lesen, daß sie etwas Furchtbares gesehen hatte.
●
Der Reiter benutzte den schmalen Pfad zwischen den dichtstehenden
Bäumen und Büschen. Wie der Mann das Pferd behandelte, ließ darauf schließen,
daß er mit Tieren umzugehen verstand.
Erik Rydaal hatte lange Jahre auf einem Bauernhof gearbeitet. Der Besitzer
dieses Hofes hatte eine eigene Reitschule gehabt, die recht gut besucht war.
Von diesem Hof holte sich Erik noch immer den guten alten Dala,
wenn er einmal Lust verspürte, die waldreichen Gegenden abseits der Autostraßen
und der Hektik des Lebens auf dem Rücken eines Pferdes zu durchstreifen. Er
fühlte sich unsagbar frei und ungebunden, atmete die frische Luft, und während
der lang andauernden Mitternachtssonne war er schon oft bis in die frühen
Morgenstunden unterwegs gewesen. Für Feiern und Folkloredarbietungen, wie sie
gerade hier in Dalama häufig stattfanden, hatte er nichts übrig. Er war zwar
ein typisches Kind dieser Landschaft, aber doch anders geartet. Erik ließ sich
nicht gern vom Kalender vorschreiben, wann er lustig zu sein hatte und wann
nicht. Er feierte seine Feste, wann es ihm paßte. Seine Freunde dachten ebenso.
Heute wollte er sich mit Siw in dem Sommerhaus treffen. Die
Achtzehnjährige stammte aus Malmö. Sie verlebte hier die Ferien, und er hatte
sie kennengelernt. Siw war eine charakteristische Vertreterin ihrer Zeit,
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