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Im Schatten der Pineta

Im Schatten der Pineta

Titel: Im Schatten der Pineta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Malvaldi
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verurteilen. Und in diesem Fall ist weit und breit keiner in Sicht. Kein Einziger. Die Moral von der Geschichte: In ein paar Monaten werden sie ihn freilassen, und Tratschblätter wie Gente oder Novella duemila werden sich um ihn reißen, um ein Interview von ihm zu bekommen. Ich sehe ihn schon an einem Tischchen gegenüber einer dieser rattenscharfen und charakterfesten Journalistinnen sitzen, die ihn verständnisvoll anhimmelt, während sie einen Daiquiri schlürft und er erzählt, was er im Gefängnis durchgemacht hat und wie sehr diese Erlebnisse sein Leben zerstört haben.«

    Der Dottore drehte sich wieder um und wandte sich erneut dem Kreis der Rentenempfänger zu, um sie abermals in den Genuss seiner Ausführungen kommen zu lassen: »Und damit ist die Sache gegessen, Sie werden schon sehen. Es ist unmöglich, eine Verbindung zwischen Alina und Pigi herzustellen, bei der Vielzahl von Menschen, die etwas dazu zu sagen hätten, was mindestens sechzig verschiedene Versionen der Geschichte ergäbe. Unter zahlreichen Entschuldigungen werden sie ihn freilassen, dann ein paar weitere Monate damit verbringen, so zu tun, als würden sie weiterhin ermitteln, um schließlich die Sache in der Schublade der ungelösten Fälle verschwinden zu lassen. Und eines Abends stoßen wir beim Zappen dann auf eine dieser Sendungen, in dem der Mordfall Costa detailgenau rekonstruiert wird und man die Protagonisten interviewt. Und erst dann wird uns endgültig bewusst, dass er zu den ungelösten Fällen zählt, dass Alina tot ist und wir nichts mehr daran ändern können und uns sogar die Lust daran vergangen ist, Ermittler zu spielen.«
    »Mir ist sie aber noch nicht vergangen.« Massimos Stimme, der eine Zeit lang unsichtbar war, weil er sich auf der anderen Seite des Tresens am Boden zu schaffen machte, klang ruhig. Es war keine Verkündigung, sondern einfach nur eine Feststellung. »Abgesehen von dem ungewollten Kind, welches Motiv hätte Pigi haben können, Alina umzubringen?«
    »Ich weiß es nicht, Massimo, ich weiß es nicht.«
    »Ich auch nicht. Was jedoch nicht heißt, dass ich nicht die Möglichkeit hätte, es herauszufinden. Als man Newton fragte, wie er die äußerst komplizierten Fragestellungen löst, mit denen er es tagtäglich zu tun hatte, antwortete er, es sei ganz einfach, er denke ständig darüber nach. Ich bin zwar gewiss nicht Newton …« – eine kleine Pause, um sich Tee einzuschenken –, »aber wenn ich etwas nicht verstehe, kann ich nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken, bis ich es endlich kapiere.«
    »Und wenn Sie es nicht kapieren?«
    »Ach, keine Sorge. Früher oder später kommt mir ein neues Problem in die Quere, und dann vergesse ich das alte.«

Elf
    »Nein, es ist zwecklos. Ich geb’s auf. Ich krieg’s einfach nicht auf die Reihe.«
    Massimo saß, den Rücken trotz weit geöffneter Fenster von mindestens einem Liter Schweiß getränkt, lässig und bequem am Steuer seines Wagens, dessen Klimaanlage vor einem Monat mit Pauken und Trompeten den Geist aufgegeben hatte, und fuhr auf der Autobahn Richtung Rosignano. Er wollte ans Meer, ans richtige Meer, das der Maremma und nicht etwa das von Pineta, das so trüb war, dass man nicht einmal im zehn Zentimeter tiefen Wasser seine Füße sehen konnte, und nichts vermochte ihm dabei seine gute Laune zu verderben. Außerdem konnte er im Auto nach Belieben Selbstgespräche führen, ohne dass ihn jemand schief ansah; die Leute dachten allenfalls, er würde mit der Freisprechanlage seines Handys telefonieren.
    Oft dachte er, wie grundlegend das Autofahren doch den Charakter eines Menschen verändert: Oder, um genauer zu sein, er dachte es immer dann, wenn er sich unter vulgären Beschimpfungen mit anderen Autofahrern in die Haare kriegte, die sich anmaßten, genau die Straße zu benutzen, auf die er ein Anrecht hatte, und dazu noch hundsmiserabel fuhren. Dieselben Leute, die, wenn er ihnen in einer Bäckerei begegnen würde, bei ihm allenfalls ein leichtes Kopfschütteln hervorrufen würden. Man sitzt allein mit sich selbst in seinem Auto, in seinem Panzer, und ist absolut man selbst, hat keinerlei Angst vor möglichen gesellschaftlichen Konsequenzen wie vorwurfsvollen Blicken oder Faustschlägen: Also kann man auch mal nach Strich und Faden stinksauer werden. Die anderen sind plötzlich keine Menschen mehr, sondern werden zu Darstellern eines x-beliebigen Films, der gerade im Fernsehen läuft, seltsame rote Fische, die an einem vorbeischwimmen, einige

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