Im Schatten der Tosca
Lehrer und Schülerin gut miteinander zurecht.
Mindestens einmal in der Woche, noch jahrelang, pilgerte Mariana zu Professor Wettergren. Sie freuten sich beide auf diese Stunden. Angestachelt durch ihre Begeisterungsfähigkeit, breitete er seine Wissensschätze vor ihr aus, und sie sog alles in sich auf, was er ihr riet. Sie bildeten ein ideales Großvater-Enkelin-Gespann. Zwei glückliche Sangesbesessene. Irgendwann kramte er unter seinen Noten die heißgeliebten Lieder hervor, Schubert, Schumann, Hugo Wolf, Edvard Grieg.
»Gott allein weiß, warum sich an der Hochschule kein Aas um diese Schätze wirklich kümmert, vielleicht nennt man das Tradition«, mokierte er sich. Dort ging es neben dem Gesangsunterricht fast ausschließlich um Opernpartien.
Marianas Stimme war ein Mezzosopran, das bestritt inzwischen niemand mehr. Aber die Grenzen waren fließend, nach oben und nach unten, je nachdem hatte sie eine Tiefe fast wie ein Alt, und bis zu einer bestimmten Höhe blieb die Stimme biegsam und leicht – wer weiß, vielleicht war das Höhentraining von Madame Gregorija doch nicht ganz umsonst gewesen. Zumindest hatte es keinen bleibenden Schaden angerichtet, und Marianas Stimme war einfach von Natur aus so beschaffen. Jedenfalls stand ihr eine Vielfalt interessanter Rollen offen, ganz bestimmt auch die großen dramatischen Mezzopartien, die ihrem leidenschaftlichen Temperament entsprachen.
Daneben gab es noch einen riesigen Stundenplan, Deklamation, Sprechen, Klavierspielen gehörten dazu, Italienisch, Französisch, Deutsch, Theaterspielen, Kompositionslehre, sogar Fechten. Damit all dies Verwendung fände, beschloss Mariana, zusammen mit zwei anderen Mädchen, Erna Erichson und Astrid Berglund, eine Oper zu schreiben: ›Die Drei Musketierinnen‹. Über eine erste Szene mit viel Florettgefuchtel und Geschrei gedieh das Werk nicht hinaus. Doch als dieses Fragment am Ende des ersten Semesters zur Aufführung kam, brachte es seine Sänger-Autorinnen in den Ruf verwegener Ungebärdigkeit. »Trio Infernal« wurden sie von ihren weniger kühnen Kommilitoninnen genannt.
Zwischen Mariana, Erna und Astrid hatte am Tag der Aufnahmeprüfung eine lebenslange Freundschaft begonnen. Zunächst hatten auch sie wie die anderen Prüflinge stumm und in sich gekehrt dagehockt. Alle versuchten sich zu konzentrieren, zu sich zu kommen, bei sich zu bleiben. Mit zitternden Fingern wurde in Noten geblättert, unter leisem Gemurmel eine Arie memoriert, manche saßen wie festgenagelt auf ihrem Stuhl, andere irrten ruhelos umher. Niemand hatte das Bedürfnis, mit einem der Leidensgenossen zu sprechen: Die kostbare Stimme, man hätte sie am liebsten in Watte gepackt.
Mariana fühlte sich ganz wohl in ihrer Haut, aber auch ihrwar nicht nach Reden zumute. Die meisten Eindrücke drangen gar nicht in ihr Bewusstsein, aber bei einem zierlichen rotblonden Mädchen hakte sich ein Stück ihrer Aufmerksamkeit fest.
»Du lieber Himmel, der geht’s aber nicht gut.«
Plötzlich sprang das Mädchen auf, käsebleich, und lief auf die Türe zu, im Gang hörte man ihre Absätze klappen, dann war es wieder still.
Das hatten alle gemerkt, doch niemand rührte sich. Nach einer Weile schaute Mariana auf, genau im gleichen Augenblick wie ein blondes Mädchen. Als hätten sie sich abgesprochen, starrten sie sich kurz an, schnellten hoch und rannten zusammen los, schnurgerade zur Toilette. Dort hing die unselige Gefährtin über der Kloschüssel und würgte sich den letzten Rest Galle aus dem Leib. Mariana und das blonde Mädchen knieten neben ihr nieder, tätschelten ihr den schweißnassen Rücken, streichelten die eiskalte Stirn.
»Was hast du, sollen wir einen Arzt holen?«, fragten sie.
Die andere schüttelte den Kopf, schließlich ächzte sie: »Seit vier Tagen warte ich drauf, aber nein, heute muss es kommen, ich hab Bauchweh, mir ist ganz schwindelig.«
Mariana und das blonde Mädchen waren geschickte Hilfsschwestern. Mit Massagen, munterem Gerede, Hin- und Hergeschleppe an der frischen Luft, Tee aus einer Thermoskanne bekamen sie die Geschwächte wieder auf die Beine. Zur endgültigen Stärkung zog Mariana ein Fläschchen aus ihrer Tasche.
»Wodka, den hat mir mein Vater mitgegeben! Übrigens, ich heiße Mariana.«
»Und ich Astrid«, sagte die Blonde.
»Ich Erna. Auf unsere Freundschaft.« Alle drei nahmen einen Schluck aus der Flasche.
Während des Semesters war es gar nicht so einfach, sich überhaupt kennenzulernen, jeder hatte viel zu
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