Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
konnte tun, was immer er wollte.
Naomi hörte, wie der Wagen in die Einfahrt fuhr und ging zur Haustür. Leandra flog förmlich die Stufen zu ihr hoch, fasste sie vorsichtig an den Schultern, zog sie zu sich und drückte sie fest an ihre Brust. »Iker hat uns alles erzählt. Wir machen uns solche Vorwürfe, dass wir nicht mit dir zurückgeflogen sind.«
»Ihr konntet es doch nicht wissen«, flüsterte Naomi und schluckte trocken. »Nun ist es ja vorbei.« Es würde noch einige Zeit vergehen, bis sie die Vorkommnisse jener Nacht verarbeitet haben würde, aber Sammy war fort und ihre Familie endgültig in Sicherheit. »Wie war´s denn noch bei euch?«
»Das soll besser Romina erzählen. Es war unheimlich und wundervoll, sie als Panther auf den alten Mauern umherstreifen zu sehen. Ein einmaliger Anblick. Nopaltzin und Ichtaca sahen ihr ebenfalls die ganze Nacht sprachlos zu.« Für einen Moment leuchteten Leandras Augen vor Begeisterung.
»Jetzt kommt erst mal rein«, erwiderte Naomi und zog ihre Großmutter mit sich.
»Und mit euch ist wirklich alles in Ordnung? Hast du noch Schmerzen?« Leandra sah sie mitfühlend an.
»Wir sind okay. Und eigentlich möchte ich diese Tage nur noch vergessen. Deswegen sollte Iker euch schon auf der Heimfahrt erklären, was passiert ist.« Naomi hatte in den vergangenen Tagen genug darüber geredet.
Karsten hatte jede Einzelheit wissen wollen, als er vor zwei Tagen wegen seiner Semesterarbeit hier gewesen war. Die Beschreibung von Tenochtitlán hatte er bis ins kleinste Detail in die Biografie von Hernán Cortés mit aufgenommen. Es war ein großartiges Porträt ihres Vorfahren geworden. Iker hatte die grammatikalischen Verbesserungen vorgenommen, und Karsten hatte die Arbeit danach sofort seinem Professor übergeben. Noch am selben Nachmittag hatte er einen Anruf des Professors erhalten, der ihm mitteilte, es sei die beste Arbeit, die ihm jemals unter die Finger gekommen wäre.
Im Esszimmer stand ein großes Frühstück bereit, und nach einem ersten Blick auf Romina, bemerkte Naomi eine Veränderung an ihr. Ein zartes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Selten hatte sie Romina so zufrieden und ausgeglichen erlebt. Bisher schien sie immer von irgendetwas gehetzt zu werden. Ihre Augen huschten nicht mehr von einer Ecke in die andere, als hätte sie Angst, sie könne etwas verpassen oder übersehen.
»Nachdem ihr von Iker erfahren habt, dass Sammy uns nicht mehr gefährlich werden kann, gibt es nur noch eines, was ihr wissen solltet. Gestern habe ich wieder in der Kanzlei angerufen und nach Thursfield Junior gefragt. Nachdem ich mit seiner Sekretärin mittlerweile schon zehn Mal gesprochen habe und sie immer irgendwelche Ausreden präsentierte, hatte ich dieses Mal eine Aushilfe am Telefon, die viel gesprächiger war. Sie erzählte mir im Vertrauen, dass der Juniorchef vorerst nicht mehr in die Kanzlei zurückkommen würde.«
Iker gluckste. »Den Job wird sie nicht lange haben.«
Naomi grinste. »Eher nicht. Ganz aufgeregt hat sie mir erzählt, dass Thursfield vor einigen Monaten auf einer Geschäftsreise überfallen und übel zugerichtet auf einer Landstraße bei Barcelona aufgefunden worden sei. Als er sich endlich von seinen schweren Verletzungen erholt hatte, war er an seinem ersten Tag in der Kanzlei mit einem Gehilfen in Streit geraten. Das Geschrei in seinem Büro hat damit geendet, dass der Gehilfe plötzlich aus der Kanzlei stürmte. Ein Anwaltskollege wollte nach Thursfield sehen und fand ihn bewusstlos und mit blutendem Hinterkopf auf dem Fußboden neben seinem Schreibtisch vor. Er muss heftig auf die Schreibtischkante gefallen sein. Auf jeden Fall ist er nun blind.«
»Das nenne ich eine gerechte Strafe!«, rief Leandra aus.
Romina und Iker nickten zustimmend.
»Ich bin mir sicher, dass der Gehilfe Sammys Bruder war. Ich habe ihn damals in der Kanzlei gesehen und im Wald wiedererkannt. Und die Polizei sagte ja auch, dass er in England gesucht würde.« Naomi räusperte sich. »Naja, auf jeden Fall haben sie innerhalb der Kanzlei lange gehofft, dass die Blindheit nur vorübergehend sein würde. Daher auch die ewigen Ausreden. Aber nach über einem halben Jahr besteht keine Hoffnung mehr, dass er jemals wieder sehen kann. Damit wären wir auch ihn los.« Naomi stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Und nachdem ich die zweite Vollmondnacht hier im Garten verbringen musste und beinahe verrückt geworden bin, möchte ich wissen, wie es in der Ausgrabungsstätte gewesen
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