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Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Kahi
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im « KIFF » gewesen, aber wie immer, wenn er eine neue Stelle antrat, hatte er seine Hausaufgaben gemacht und wusste um die Beliebtheit dieses Kulturtreffpunkts. Es war schon immer Teil seines Erfolgsrezepts gewesen, in allen Belangen über die Stadt, in der er arbeitete, Bescheid zu wissen.
    Das leichte Brennen am Hals holte ihn in die Gegenwart zurück. Offenbar hatte ihm der Kerl die Haut aufgekratzt. Morgen früh würde er zum Arzt gehen und sich gegen Tetanus impfen lassen müssen. Chris seufzte. Und gleich auf der Kantonspolizei vorsprechen. Sechs Finger. Kein normaler Mensch hatte sechs Finger an einer Hand. Der Mann musste an einem Gendefekt leiden – einer Trisomie acht oder dreizehn oder wie viel auch immer. Das hiess, er konnte nichts für das, was er getan hatte. Aber damit er nicht eines Tages tatsächlich einen Jogger erwürgte, würde Chris ihn anzeigen müssen. Und dabei die Sache mit den Briefen erwähnen.
    Nun, da er wusste, wie er vorgehen würde, fühlte Chris seine Souveränität wiederkehren. Er atmete einige Male tief durch, dann trabte er weiter. Nüchtern betrachtet gab es keinen Grund, die Joggingrunde wegen des Vorfalls abzubrechen. Mehr als ein Verrückter würde ihm an ein und demselben Tag kaum an die Gurgel gehen. Und der Fremde war an diesem Abend für niemanden mehr eine Gefahr; nicht nach Chris’ Knietritt in die Eier.
    Als Chris den Graben erreichte, hatte er beinahe zur gewohnten Leichtfüssigkeit zurückgefunden. Doch nach wenigen Metern wurde er erneut gebremst. An der Einmündung in die Laurenzentorgasse versperrte ihm ein Postauto der Linie 135 den Weg. Der Chauffeur hupte – unwillig, wie Chris schien. Simone hätte jetzt gelacht. Dabei stimmte es: Man merkte es, welcher Stimmung eine Person bei bestimmten Tätigkeiten war. Und der Huper war eindeutig sauer. Wie zur Bestätigung riss der Beamte das Fenster auf.
    «Herrgottsack, ich habe einen Fahrplan einzuhalten. Müssen Sie Ihr Velo mitten auf der Strasse schieben?»
    Chris zuckte schuldbewusst zusammen. Dabei wusste er, dass die Tirade nicht ihm galt, sondern dem Mann, der, ein schwarzes Militärvelo an der Seite, mit schleppenden Schritten Richtung Kronengasse torkelte.
    «Ja, ja, bin gleich da», lallte der.
    «Wird auch langsam Zeit!»
    Der Motor des Postautos heulte auf.
    «Schafseckel!» Der Fussgänger schaute über die Schulter und streckte dem Busfahrer die geballte Faust mit ausgestrecktem Mittelfinger entgegen, hielt aber abrupt inne. Ein Zittern lief sichtbar durch seinen Körper. Seine Augen weiteten sich. Kraftlos sank sein Arm herab, als das Velo auf den Pflastersteinen aufschlug.
    Hastig verbarg sich Chris hinter dem gelb-grau gescheckten Stamm der letzten Platane am Graben. Er war dem Mann noch nie begegnet, da war er sich absolut sicher. Der aber schien ihn ganz offensichtlich nicht nur zu kennen, sondern hatte darüber hinaus seine Trunkenheit im Moment des Erkennens gegen blanken Hass getauscht.
    Diese Augen.
    Chris fröstelte. In seiner Position war er einiges an Feindseligkeit gewohnt. Aber das Ausmass an Hass, das der Mann ihm entgegenschleuderte, erschütterte ihn. So in etwa musste sich Cäsar gefühlt haben, einen Wimpernschlag bevor ihm der erste Verschwörer den Dolch in die Brust rammte. Doch der tödliche Stoss blieb aus. Stattdessen beugte sich der Mann zu seinem Velo, packte es am Lenker, hievte es überraschend schwungvoll hoch und schob es hektisch zum nächsten Hauseingang. «Buchhandlung und Papeterie zum Bücherwurm – T. Sarasin» stand in schwarzen Lettern auf dem Aluminiumschild zwischen der Eingangsbucht, in der der Mann eben verschwand, und dem grell ausgeleuchteten Schaufenster.
    Sarasin. Der Name sagte Chris etwas. Endlich fiel der Groschen. Der angetrunkene Kunde in der Bank gestern. Sein Gepöbel war bis in die Teppichetage gedrungen. Was der Grund für den Ausraster gewesen und wie die ganze Sache ausgegangen war, wusste Chris nicht. Morgen würde er als Erstes seine Assistentin danach fragen. Einstweilen war er bloss erleichtert, dass die Begegnung nicht eskaliert war. Die Stimmung gegen die Banken war auch ohne Kunden, die wüste Drohungen durch die Gegend brüllten, angespannt genug. Das Letzte, was er als CEO der führenden Bank am Platz brauchen konnte, war eine Szene auf offener Strasse.
    Wer sagt, die Amerikaner seien verrückt, ist noch nie in der Schweiz gewesen, dachte Chris und joggte wieder los. Schliesslich konnte er nicht bis in alle Ewigkeit hinter der

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