Im Schattenwald
sie sich auf und zwang sich zu einem Lächeln. »So, und jetzt sollten wir zusehen, dass wir etwas in unsere hungrigen Bäuche kriegen.«
Rudolphs Suppe
W as ist denn das?«, fragte Samuel, als er die trübe braune Flüssigkeit in der Schüssel erblickte. »Rentiersuppe«, antwortete Tante Eda, als wäre es das Normalste auf der Welt.
Samuel betrachtete die Haare an ihrem Kinn und auf der Oberlippe. Sie sieht genauso abstoßend aus wie die Suppe , dachte er und konnte kaum glauben, dass sie und Mum Zwillingsschwestern gewesen waren.
Seine Mutter war hübsch gewesen, hatte immer geschmackvolle Kleider und Make-up getragen. Sie hatte eine Creme benutzt, um die Haare auf der Oberlippe zu entfernen, und zweimal in der Woche ihr Fitnesstraining absolviert, um ihre Figur in Form zu halten. Sie hatte Jeans und T-Shirts in leuchtenden Farben getragen und war jeden Samstag zum Friseur gegangen, um ihre Haare nachschneiden oder sich Strähnchen machen zu lassen.
Samuel blickte auf die grau melierten Haare von Tante Eda, die zu einem Knoten zusammengebunden waren. Dann betrachtete er ihre roten Wangen, ihre Bluse und ihre Strickjacke, die aussah, als wäre sie 200 Jahre alt. Schwierig, sich vorzustellen, dass die beiden überhaupt zur selben Spezies gehörten, geschweige denn Schwestern waren.
»Rentier? Pfui Teufel!« Wahrscheinlich von Rudolph dem Rentier , dachte er schaudernd.
»Du wirst schon sehen, es schmeckt wirklich ausgezeichnet«, sagte Tante Eda, »so ähnlich wie Rindfleisch.«
Samuel sah, wie seine Schwester an ihrem Löffel nippte und keinerlei Reaktion zeigte. Er tat dasselbe und zuckte angewidert zusammen.
»Das schmeckt ja ekelhaft!«, sagte er.
»Es war Henriks Lieblingssuppe«, entgegnete Tante Eda.
»Der muss ja einen scheußlichen Geschmack gehabt haben«, sagte Samuel.
Tante Eda beugte sich über den Tisch. »Sprich nicht so über Onkel Henrik! Hast du mich verstanden?«
Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, hatte jedoch die drohende Intensität einer fauchenden Katze. Dabei war es gar nicht so sehr ihre Stimme, die ihm Angst machte, sondern ihr Gesichtsausdruck. Sie schien so verletzt, dass er zum ersten Mal seit ihrer Ankunft ein schlechtes Gewissen hatte, so grob gewesen zu sein.
Er wollte sich entschuldigen, war aber aus irgendeinem Grund nicht in der Lage dazu. Doch offenbar stand ihm die Entschuldigung ins Gesicht geschrieben, denn Tante Eda nickte stumm und löffelte dann weiter ihre Suppe.
Es war eine peinliche Stille entstanden, die nur von Ibsens Winseln gebrochen wurde.
»Was ist los, Ibsen?«, fragte Tante Eda.
Ibsen schaute zum Fenster und schnüffelte, seine Nase dem Wald zugewandt. Samuel blickte zum Hund hinüber und bemerkte sein sonderbares Verhalten, ohne genau sagen zu können, was daran eigentlich so sonderbar war.
Tante Eda kümmerte sich nicht weiter um Ibsen, sondern schlürfte ihre Suppe. Dann sagte sie: »Nach dem Essen werde ich euch beiden die Regeln erklären, die für unser Zusammenleben gelten. Schließlich könnt ihr sie ja nicht befolgen, wenn ihr nicht genau wisst, worum es geht, oder?«
Martha nickte. Samuel zeigte keine Reaktion. Er wollte von Regeln nichts wissen. Warum sollte er überhaupt auf seine Tante hören? Schließlich hatte sich nie jemand darum gekümmert, was er sagte. Nicht einmal, als es um Leben und Tod gegangen war - als er das Auto seiner Eltern zum Stehen bringen wollte, ehe es von einem herabstürzenden Baumstamm zerquetscht wurde.
»Regeln schaffen uns einen festen Rahmen«, sagte Tante Eda. »Und wir müssen uns innerhalb dieses Rahmens bewegen. Das ist zu unserem eigenen Besten.«
Samuels Blick fiel auf ihre bis oben hin zugeknöpfte Strickjacke, und mit einem Mal begriff er, was für ein Mensch Tante Eda war: Sie war bis oben hin zugeknöpft, und er fragte sich, was all die unsichtbaren Knöpfe an ihrem Platz hielt.
»Nun, nachdem wir gegessen haben«, fuhr Tante Eda fort, »ist es an der Zeit, euch mit den Regeln vertraut zu machen.«
Samuel wollte schon widersprechen, ließ es aber bleiben, als er bemerkte, dass seine Schwester aufmerksam zuhörte. Vielleicht will sie die Regeln wirklich kennenlernen, dachte er. So entschied sich Samuel also, vollkommene Ruhe zu bewahren, während seine Tante die Liste der Regeln von eins bis zehn durchging.
Die Regeln
1. Geht nie auf den Dachboden.
2. Äußert nie etwas Negatives über Onkel Henrik, da er sich nicht persönlich verteidigen kann.
3. Zieht an der Haustür die
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