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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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Schuhe aus.
    4. Füttert Ibsen nicht zwischen den Mahlzeiten, selbst wenn er bettelt.
    5. Esst immer auf. Eines Tages könntet ihr all eure Stärke brauchen.
    6. Fragt immer um Erlaubnis, wenn ihr aus dem Haus gehen wollt.
    7. Verlasst das Haus nie im Dunkeln.
    8. Wenn ihr bei Anbruch der Dunkelheit noch draußen seid, kommt schnellstens nach Hause.
    9. GEHT NIE - UNTER KEINEN UMSTÄNDEN - IN DEN WALD.
    10. Stellt diese Regeln nicht infrage. Vor allem nicht Nummer 9.

Das Volk der Huldren
    V or den Fenstern war es dunkel.
    Eine Dunkelheit, wie sie Samuel und Martha noch nie erlebt hatten. In England wurde sie immer von irgendeiner Straßenlaterne gemildert. Doch hier, in unmittelbarer Nähe zu einem dichten Wald und viele Kilometer vom nächsten Ort entfernt, spürte man die Schwere der Dunkelheit fast körperlich auf sich lasten. Sie drückte förmlich gegen die Fenster, als würde das Haus von einem Riesen umklammert.
    Samuel sah einen Lichtreflex in seinem Glas und fuhr herum. »Was ist das?«, fragte er. Er deutete auf das sonderbare Licht, das Tante Edas Gesicht erhellte.
    »Eine ganz besondere Lampe«, antwortete sie sanft. »Eine Glückslampe. Sie bewahrt mich vor der Traurigkeit, wenn es so dunkel ist.«
    »Könnte auch Martha sie ausprobieren?«, fragte er.
    »Wenn sie möchte … Martha, möchtest du einmal meine Glückslampe ausprobieren?«
    Martha betrachtete die ultravioletten Lichtröhren und schüttelte den Kopf.
    Tante Eda wandte sich von der Lampe ab und lächelte sie an. »Du könntest ein Huldre sein«, sagte sie bekümmert. Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie diesen Gedanken eigentlich nicht hatte aussprechen wollen.

    »Was ist ein Huldre?«, fragte Samuel an Marthas Stelle.
    Tante Eda spähte eine Weile durch den Spalt zwischen den Vorhängen nach draußen. Vielleicht sollte ich ihnen wirklich von den Huldren erzählen , dachte sie. Falls irgendwas passieren sollte.
    »Die Huldren sind Kreaturen, die Angst vor dem Licht haben«, antwortete sie schließlich und änderte den Winkel ihrer Lampe. Sie schilderte die Huldren ein wenig harmloser, als sie in Wirklichkeit waren. In ihrer Beschreibung klangen sie eher wie Wesen aus einem Märchenbuch als Geschöpfe, die im Wald hinter ihrem Haus lebten. »Sie verdunsten, wenn sie der Sonne ausgesetzt sind. Sie leben in ihrer dunklen Welt unter der Erde und neiden den Menschen ihr Leben im Licht. Huldre heißt auf Norwegisch so viel wie darunter . Die Huldren sind angeblich so groß wie wir, doch es sind hässliche Wesen mit Schwänzen und grauer Haut, grässlichen Augen und knöchernen Körpern. Angeblich halten sie Menschen in ihren unterirdischen Gefängnissen …« Sie hielt inne, als sie daran dachte, was der Alte Tor angeblich gesehen hatte.
    Samuel dachte an die Albträume, die ihn gelegentlich heimsuchten - von grauhäutigen Monstern mit Schwänzen und weit auseinanderstehenden Augen. Aber das waren nur Albträume ohne realen Bezug.
    »Glaubst du etwa, dass sie wirklich existieren?«, fragte er.
    Tante Eda verzog ihren Mund, als kaue sie ein wenig auf der Frage herum. Dann entgegnete sie: »Ich glaube, es gibt viele Dinge da draußen, die wir nicht verstehen können.«
    Die hat sie doch nicht alle , dachte Samuel, die ist ja völlig durchgeknallt.
    Na gut, seine Mutter hatte schließlich auch an die Bedeutung von Sternzeichen geglaubt, aber doch nicht an irgendwelche Fabelwesen mit Schwänzen, die unter der Erde lebten.
Vielleicht hatte die Glückslampe Tante Eda verrückt gemacht. Eine Schwachsinnslampe, die ihren Kopf mit verrückten Ideen füllte.

    Als sie später in ihren Betten lagen, sagte Samuel zu Martha: »Ich hasse diesen Ort.«
    Martha schwieg.
    »Und sie hasse ich auch. Ich hasse ihr haariges Kinn, ihre Rudolphsuppe, ihren fehlenden Fernseher, ihre Knöpfe und ihre Regeln.«
    Martha schwieg immer noch.
    »Martha … so sag doch was … bitte! Sing ein Lied … mach irgendein Geräusch … bitte! Ich ertrag es einfach nicht, ihr den ganzen Tag zuhören zu müssen.«
    Doch Martha blieb stumm. Irgendwo, tief in ihr, wollte sie mit ihrem Bruder sprechen, aber die Wörter waren verschwunden.
    »Weißt du, was du bist, Martha?«, fragte er und stand auf. »Du bist eine egoistische Kuh. Eigentlich solltest du einen Kuhschwanz haben. Du denkst nur an dich. Ich weiß, dass du so traurig bist, weil Mum und Dad nicht mehr leben, aber was meinst du, wie traurig ich bin, und ich wäre weniger traurig, wenn du mit mir reden würdest. Martha? Jetzt

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