Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
Vom Netzwerk:
werdet sehen.

    In Liebe
    eure Tante Eda

Das Ja-Nein-Mädchen
    T ante Eda erwartete sie am Flughafen. In der Hand hielt sie ein kleines Schild mit der Aufschrift: HALLO SAMUEL + MARTHA. ICH BIN TANTE EDA.
    Samuel sah das Schild zuerst. »Da ist sie.«
    Martha erblickte eine groß gewachsene, schmale Frau, deren grau meliertes Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden war. Sie trug einen langen, gestreiften Schal sowie einen weiten orangefarbenen Mantel und lächelte sie offenherzig an.
    Martha folgte ihrem Bruder durch die Menschenmenge und versuchte, das Lächeln zu erwidern, war jedoch nicht dazu imstande. Sie hatte ihre Fähigkeit zu lächeln vor sieben Tagen verloren. An diesem Tag hatte sie auch aufgehört zu sprechen.
    Samuel hingegen sagte kein Wort, weil ihm das Aussehen von Tante Eda nicht gefiel. Sie sah ganz und gar nicht wie jemand aus, der schon einmal an den Olympischen Spielen teilgenommen hatte. Sie machte einen strengen Eindruck und war höchst merkwürdig gekleidet. Ihm gefielen weder ihr unsinnig langer Schal noch ihre komischen, schweren Stiefel noch ihr weiter orangefarbener Mantel. Auch ihre roten Wangen, ihr langer Hals und die sonderbar abfallenden Schultern, die ihr das Aussehen einer Weinflasche verliehen, waren nicht nach seinem Geschmack.

    Tante Eda breitete die Arme aus.
    »Samuel!«, sagte sie mit unvermindert strahlendem Lächeln. »Martha!«
    Ihre Gesichter wurden gegeneinander gedrückt, als Tante Eda sie gleichzeitig umarmte. Samuel musste feststellen, dass diese Arme - wenngleich ziemlich dünn - sehr stark waren. Ihre borstigen Haare an Kinn und Oberlippe kitzelten an seiner Wange.
    »Ihr armen Kinder!«, rief sie aus, während sie die beiden weiterhin an sich drückte. Dann flüsterte sie etwas auf Norwegisch, das weder Samuel noch Martha verstanden. Es schien sie jedoch sehr zu bewegen, denn hinterher hatte sie Tränen in den Augen.
    Sie schaute lange in ihre Gesichter, als suche sie etwas, das sie nicht finden könne.
    »Ach ja«, seufzte sie, »wir sollten mal beim Fundbüro nachfragen, ob dort das Lächeln zweier Kinder abgegeben wurde.«
    »Ich bin zwölf«, sagte Samuel gereizt, »und Martha ist zehn. Du brauchst uns also nicht wie Babys zu behandeln.«
    Tante Eda schien eine Erwiderung auf der Zunge zu liegen, doch sie überlegte es sich anders.
    »Okay«, sagte sie, indem sie einen Blick auf den Gepäckwagen warf, den Samuel vor sich herschob. »Darf ich dir mit dem Gepäck helfen, Mister Zwölf-Jahre-alt?«
    »Nicht nötig«, antwortete Samuel und schloss die Hände enger um den Metallgriff des Gepäckwagens. In Wahrheit hatte er es geschafft, sich den einzigen Wagen mit defekten Rädern auszusuchen, und kam nur mühsam voran, versuchte, seine Anstrengung jedoch zu überspielen.
    »Sehr schön, dann lasst uns zum Auto gehen.«
    Tante Eda sprach mit leichtem Akzent, der ihrer Stimme ein gewisses Erstaunen verlieh, als wunderten sich die Wörter
darüber, ausgesprochen zu werden. Alle Vs klangen bei ihr wie Ws oder Fs, was Samuel ziemlich lustig gefunden hätte, wäre er nicht so verärgert darüber gewesen, in Norwegen zu sein.
    »Die sieht doch bescheuert aus«, flüsterte Samuel, während er und Martha der Tante durch das Flughafengebäude folgten.
    Martha warf ihrem Bruder einen missbilligenden Blick zu. Nein, tut sie nicht , dachte sie, war aber zu traurig, um es auszusprechen. Sie sieht nett aus. Sie hat Mums Augen und Mums Lächeln und ist sehr freundlich zu uns.
    »Schau dir nur mal ihre Klamotten an«, fuhr Samuel fort. »Ihren bescheuerten Schal. Und dann diese Stiefel. Und was soll eigentlich dieser riesige Mantel? Die braucht doch eine Stunde, um ihn ganz zuzuknöpfen.«
    Tante Eda drehte sich um. »Entschuldigung, hast du was gesagt?«
    »Äh, ich hab nur gesagt, wie sehr mir deine Kleidung gefällt«, antwortete er.
    »Oh, vielen Dank«, entgegnete Tante Eda.
    Die Kinder folgten ihrer Tante durch eine Tür mit der Aufschrift »utgang - Ausgang«, bis sie nach draußen an die kalte Luft kamen. In diesem Moment begriff Samuel, dass Tante Edas Mantel und Schal vielleicht doch nicht so dumm waren, wie er gedacht hatte.
    »Ich hasse dieses Land«, sagte Samuel zu seiner Schwester. »Ich bin seit fünf Sekunden hier und schon hasse ich es.«
    Seine Worte wurden vom Wind fortgetragen, als sie über den Asphalt zu einem ramponierten weißen Wagen spazierten, der ganz allein in der hintersten Ecke des Parkplatzes stand.
    »Schau dir die alte Klapperkiste an«,

Weitere Kostenlose Bücher