Im Schattenwald
ich kann …«
»Hm. Du bist dir vielleicht nicht ganz sicher? Vielleicht solltest du dir es noch mal etwas genauer ansehen. Was hältst du davon?«
»Piep! Piep! Piep!«
Beim letzten »Piep« schrumpfte Samuel zu einer kleinen weißen Maus zusammen.
Der Veränderer hob ihn an seinem Schwanz hoch und setzte ihn auf eine Buchseite.
»Jetzt werde ich euch eine Geschichte erzählen«, sagte der Veränderer. »Es ist eine wahre Geschichte. Es ist die Geschichte hinter der Geschichte, die diese Seiten erzählen. Und wenn sie vorbei ist, dann wird es auch mit euch vorbei sein. Deine Schwester wird zusehen, wie ich dieses Buch schließe und deinen kleinen Mäusekörper zwischen den Seiten zerquetsche. Blut und Tinte sind sich sehr ähnlich, müsst ihr
wissen … Oh, was für ein aufregender Geburtstag wird das werden!«
Dann erzählte er Samuel und Martha die Geschichte seines Lebens. Er erzählte ihnen alles. Von seiner Kindheit. Den vergessenen Geburtstagen. Seiner Zeit im Gefängnis. Er war nicht zu bremsen, zitierte Auszüge aus Die Geschöpfe des Schattenwalds sowie seiner Autobiografie und vergaß die Zeit …
Schließlich graute der Morgen. Der Wald wurde in zartrosa Licht getaucht und warf lange Schatten.
Das Feuer war erloschen.
»… bis ich die Schattenhexe - wie soll ich mich ausdrücken? - von ihren Pflichten entbinden musste und die Sache selbst in die Hand nahm«, beendete der Veränderer seine Geschichte mit einem tiefen Seufzen. »Und was auch immer als Nächstes geschehen wird, eines ist gewiss: Niemand wird den Wald je lebend verlassen.«
Im Buch gefangen
D ie graue, boshafte Kreatur schloss die Augen und blies Samuel seinen Schatten entgegen, der die Form einer Maus hatte. Doch sobald er seinen Schatten wiederhatte, kehrte auch die Angst zurück, da er sich mit einem Mal vollkommen bewusst war, was ihn erwartete.
Der Veränderer begann, die Seiten des Buchs, in dem sich Samuel befand, zu schließen. Er tat es sehr langsam und genüsslich, als wäre es der letzte Rest einer köstlichen Mahlzeit.
Samuel sah, wie ihm die gegenüberliegende Seite entgegenkam, und er konnte auch das Wort lesen, das ihn zerquetschen würde, als sein Schatten über ihm auftauchte. Es hieß:
Schrecken
Er versuchte, zur Ecke zu flüchten, doch der Veränderer hielt das Buch schief, sodass er wieder in die Mitte zurückrutschte.
Was würde mit seiner Schwester geschehen, wenn er tot war? Was für ein grausames Spiel würde der Veränderer mit ihr spielen?
Er spürte bereits, wie die Buchseiten auf seinem Rücken lasteten.
»Martha!«, piepste er, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht hören konnte.
»Martha, ich …«
Er brach ab. Der Druck auf seinen Rücken wurde zu stark.
Das war das Ende.
Doch plötzlich hörte er etwas.
Etwas Sanftes und Wunderschönes, das ihn fast seinen Schmerz vergessen ließ.
Der Druck auf seinen Rücken verstärkte sich nicht mehr. Noch lebte er. Ein wenig zerdrückt, aber er lebte. Das Geräusch - ein sanfter und langsamer Gesang, der ihm merkwürdig vertraut vorkam - hielt an.
»Happy … birthday to you … «
Der ganze Wald schwieg, um zu lauschen.
»Happy birthday to you … «
Samuel drehte sich zu seiner Schwester um, die ihm wie ein Riese vorkam.
»Martha. Du singst!«
Er sah, wie sich Marthas Mund beim Singen öffnete und schloss, während sie den Veränderer unverwandt anschaute.
»Happy birthday, Horatio … «
Das Gewicht auf Samuels Rücken nahm ab, als das Wesen, das einst Professor Tanglewood gewesen war, Schattentränen zu weinen begann. Das war alles, was er sich stets gewünscht hatte - dass jemand ein Geburtstagslied für ihn sang, und nun war es so weit.
»Happy birthday to you.«
Als Martha das Lied beendet hatte, schien sie über ihre wiedererlangte Stimme nicht weniger überrascht zu sein als Samuel. Die Hand des Veränderers, die das Buch hielt, hing schlaff herunter. Samuel rutschte die Seite hinunter, flog durch die Luft und landete in einer Pfütze, aus der er sich schwimmend befreite.
»Happy birthday to … me «, sagte der Veränderer, indem er sich die Augen trocknete. »Happy birthday to me . Das war das schönste Lied, das ich je gehört habe. Hast du das auch so gemeint? Hast du es wirklich ernst gemeint? Hat meine Geschichte dich so gerührt? Dass du alles verstanden hast, was ich getan habe?«
»Ja«, sagte Martha, die zu ihrem Bruder hinübersah, der gerade das Wasser abschüttelte.
Martha, die immer noch ohne Schatten war, hatte
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