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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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Griff um seine Taille ihn fast erdrückte. Doch die beiden Empfindungen wurden zu einer einzigen, als der Ast ihn plötzlich freigab und hoch in die Luft schleuderte.
    Seine Arme ruderten verzweifelt, nach irgendeinem Halt suchend.
    Der Baum hatte ihn einfach weggeworfen und über die Lichtung katapultiert. Jeden Moment erwartete er, auf dem Boden aufzuschlagen und zu sterben, aber das tat er nicht. Stattdessen landete er in den weichen Zweigen eines anderen Baumes. Im Grunde hatte dieser seine Zweige nach ihm ausgestreckt und ihn zu fassen gekriegt. Wieder wurde er an der Taille umklammert und in die Luft geschleudert.
    Hätte er bei all den Empfindungen, denen er ausgesetzt war, einen klaren Gedanken fassen können, dann hätte er begriffen, was mit ihm geschah. Der Veränderer leitete ein Spiel, das »Werfen und Fangen« hieß, und er war der Ball.

    Hin und her flog er, von Baum zu Baum, während unter ihm seine Schwester langsam erdrückt wurde.
    »Hoffentlich ist niemand so ungeschickt, dich fallen zu lassen!«, hörte er die Stimme des Veränderers, dessen Lachen über die Lichtung dröhnte.
    »Stopp!«, schrie Martha, als die Äste ihre Beine, ihre Brust und ihren Hals umklammerten. »Bitte!« Aus ihrem Schrei wurde ein Röcheln. »Sto…pp!«
    Panisch musste sie mit ansehen, wie die beiden Bäume, die Samuel eben noch hin und her geworfen hatten, ihn nun in verschiedene Richtungen zogen. Ihr neues Spiel hieß »Tauziehen«, und Samuels Rolle war nicht mehr die des Balls, sondern des Taus.
    Er hatte nicht gewusst, dass Schmerz eine solche Intensität erreichen konnte. Sein ganzer Körper - Schultern, Knie, Hand- und Fußgelenke - litt unendliche Qualen, während die beiden Bäume ihn immer weiter auseinanderzogen, um zu erproben, wie weit sie gehen konnten.
    »Tja, Kinder, ich fürchte, wir werden uns jetzt voneinander verabschieden müssen«, sagte der Veränderer. Er hob die Hand, um den Bäumen eine letzte Anweisung zu geben. Die Anweisung, die Samuel in Stücke reißen und Martha erdrosseln würde.
    Der Veränderer schloss die Augen und summte »Happy Birthday«.
    Er kostete die himmlische Macht ganz aus, die er in sich spürte. Die Macht über die Spezies, der er einst angehört hatte. Die Spezies, die ihn schikaniert, beschimpft, ins Gefängnis geworden und ihm seinen Geburtstag verweigert hatte.
    Er öffnete die Augen.
    »Nun Kinder, ist es an der Zeit, Lebewohl zu sagen.«
    In diesem Moment sahen sie ihn.

    Alle beide.
    Ihre Blicke waren schmerzverzerrt und dennoch sahen sie ihn.
    Wie ein schmaler Strich flog er durch die Luft, dem Veränderer entgegen. Ein Speer.
    Der Veränderer folgte den Blicken der Kinder und drehte sich um. Er tat es gerade noch rechtzeitig, um den Speer mit eigenen Augen zu sehen, doch konnte er ihn nicht mehr daran hindern, in seinen Körper einzudringen.
    »Nein!«, schrie er, während sich schwarzes Blut über seine Hand ergoss, als er die Waffe umklammerte, die seine Brust und seinen Rücken durchbohrt hatte.
    Mit seinem Schrei drangen dunkle Schatten aus seinem Mund und trieben zurück in den Wald. Er stürzte zu Boden.
    Aus dem Augenwinkel heraus sah Samuel jemand am äußersten Rand der Lichtung stehen. Es war Tante Eda mit Ibsen an ihrer Seite.
    Und mit einem Mal war alles in undurchdringliches Dunkel gehüllt, weil die Schatten zu ihren Pflanzen und Bäumen und zu allen Kreaturen zurückflogen, denen sie früher angehört hatten.
    Im Dunkeln gaben die Äste Marthas Brust und Hals frei; die Wurzeln ließen von ihren Fußgelenken ab und kehrten freiwillig in die Erde zurück, aus der sie gekommen waren.
    Die beiden Bäume beendeten das Tauziehen um Samuel, während dieser sich immer noch an den Ast klammerte, der sich um seine Taille gewickelt hatte. Als es wieder hell wurde, ließ sich Samuel von dem niedrigen Ast fallen und landete weich auf der Erde.
    Er lief zu seiner Schwester und schloss sie in seine Arme, während Tante Eda und Ibsen ihnen entgegenrannten.
    Doch dann hörten sie einen Schrei.

    »Hilfe!« Es war Tante Eda.
    Als sie am Veränderer vorbeilaufen wollte, hatte dieser einen Arm ausgestreckt und ihr Fußgelenk gepackt. Eine weitere schwarze Wolke dampfte aus seinem Mund, umschloss Tante Eda und Ibsen und nahm ihnen die Luft.
    Samuel und Martha kamen ihnen zu Hilfe.
    »Bleib zurück!«, rief Samuel seiner Schwester zu. »Ich weiß, was ich tun muss.«
    Mit angehaltenem Atem näherte er sich der Schattenwolke und griff in seine Hosentasche. Bevor der

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